Jesus besucht Berlin

Roman | Michael Kumpfmüller: Mischa und der Meister

»Worum wir dich bitten, ist, dass du Jeschua für ein paar Tage begleitest. Er wird demnächst da sein, jedoch nicht für lange, was man bei ihm vorher nie genau weiß, da er sich ungern festlegt. Er ist zum ersten Mal in der Stadt, deshalb braucht er jemanden, der ihn herumführt.« Von PETER MOHR

Diese Bitte wird der Hauptfigur Mischa angetragen – ein junger Russe, der in Berlin Slawistik studiert, in die russische Literatur vernarrt ist und ein wenig schüchtern und verträumt durch die Metropole vagabundiert. Kein paradigmatischer Held, aber sympathisch vom Scheitel bis zum großen Zeh. Mischa wirkt stets ein wenig orientierungslos, kann sich nicht zwischen Anastasia und Luna entscheiden. Die eine ist ihm geistig näher, die andere körperlich. Mit Anastasia diskutiert er leidenschaftlich über Dostojewskis Geschichte vom Großinquisitor, in der Jesus in Zeiten der Inquisition auf die Erde zurückkehrt.

Und eben genau vor dieser Herausforderung steht Protagonist Mischa, denn hinter Besucher Jeschua steckt Jesus, der als junger Tourist mit Trendy-Bart, lockigem Kurzhaarschnitt und unauffälligem Outfit in der Spree-Metropole auftaucht.  Allein seine Präsenz wirkt, ihn umgibt eine Aura des Guten, und das Gute entwickelt eine kraftvolle Eigendynamik und breitet sich in Windeseile über ganz Berlin aus.

Der 61-jährige Erfolgsautor Michael Kumpfmüller, der erst im Alter von fast vierzig Jahren mit seinem von der FAZ damals vorab gedruckten Romanerstling Hampels Fluchten debütiert hatte und später mit Nachfolgewerken wie Die Erziehung des Mannes (2016) und Tage mit Ora (2018) respektable Erfolge feierte, hatte sich zuletzt in Ach, Virginia der großen Dichterin Virginia Woolf gewidmet. Als er mit diesem Roman auf die geplante Lesereise gehen wollte, stoppte die Corona-Pandemie alle Aktivitäten. Da habe er kurzerhand weitergeschrieben, ließ Kumpfmüller wissen. Und der Roman (das ist gegenwärtig nicht unwichtig) wurde vor Beginn des Ukraine-Kriegs beendet.

Berlin wird (kleine Replik auf Corona) von Jesus‘ »Menschenliebe« infiziert – offensichtlich hochansteckend und ohne lange Inkubationszeit. Der Teufel ist davon wenig angetan und initiiert eine groß angelegte Gegenoffensive. Berlin gerät außer Rand und Band, wird zu einem wahren Tollhaus. Die Analogien zu Michail Bulgakows Der Meister und Margarita, in dem auf satirische Weise der Stalinismus angeprangert wird, sind unübersehbar. Doch von der damaligen politischen Brisanz ist Kumpfmüllers Roman weit entfernt. Er kommt eher verspielt und humorvoll daher. Die Menschen sind hin- und hergerissen, die gesellschaftliche Stimmungslage gerät aus der Balance. Der Literaturkritiker Benjamin Hasenfuß fühlt sich durch Jeshuas Anwesenheit geläutert und verspricht, dass er »nicht mehr zerstören, sondern aufbauen und heilen, keine Verrisse mehr schreiben, sondern ermuntern, die Galle des Neides ausspucken und bloß noch loben und staunen und bewundern« will.

Ein Malermeister durchlebt das genaue Gegenteil: »Ein leichter Schwindel ging ihm voraus, ein vages Dröhnen im Kopf, das nicht unangenehm war und regelmäßig seine letzte Erinnerung an sich selbst. Denn jetzt war er des Teufels.« Selbstverständlich sind diese Figuren lediglich Funktionsträger des Romans, ohne den Atem eines Eigenlebens, und wirken künstlich, wie aus Pappmaché geformt.

Das ist von Kumpfmüller aber mit so leichter Hand arrangiert, so verspielt und doch nicht oberflächlich in Szene gesetzt, dass man diesen stereotypen »Normalos« letztlich doch alles Gute im inneren Kampf zwischen Jesus und dem Teufel wünscht. Am Ende kehrt wieder Ruhe ein, und Stadtführer Mischa findet sein Glück: »Die alte Göre Berlin schaute wie immer mit Wohlgefallen auf das Paar, abwechselnd auf sie und auf ihn, um sich allmählich von ihnen zu verabschieden. Sie hatte sich eine Weile bestens mit ihnen unterhalten.« Genau das zeichnet Kumpfmüllers Roman aus: beste Unterhaltung, kurzweilig von der ersten bis zur letzten Seite.

| PETER MOHR

Titelangaben
Michael Kumpfmüller: Mischa und der Meister
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2022
362 Seiten, 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Michael Kumpfmüller in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wenn die Dinge erzählen

Nächster Artikel

Heimat wehrt sich in uns

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die geheimnisvolle 36

Roman | Judith Kuckart: Kein Sturm, nur Wetter »Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer«, hatte die gerade 60 Jahre alt gewordene Autorin Judith Kuckart vor sechs Jahren in einem Interview erklärt und damit beinahe schon die innere Zerrissenheit ihrer namenlosen Protagonistin aus dem neuen Roman Kein Sturm, nur Wetter vorweg genommen. Von PETER MOHR

Heitere Turbulenzen

Roman | Margriet de Moor: Von Vögeln und Menschen In ihrem jüngsten Roman ›Von Vögeln und Menschen‹ zeigt die niederländische Schriftstellerin Margriet de Moor ein buntes Panorama des menschlichen Miteinanders auf. Von BETTINA GUTIERREZ

Fotzelschnitten und Psychowracks

Roman | Wolfgang Bortlik: Arme Ritter Wir schreiben das Jahr 1974: Kommunen, freie Liebe und der Kampf gegen das System stehen bei vielen Jugendlichen an der Tagesordnung. So geht es auch einer Vierer-WG, die für den politischen Zweck eine Kreissparkasse in Oberbayern überfällt. Doch was nun? Bis sie sich entscheiden, verstecken sie das Geld erst einmal bei Oma. Aber dann ist das Geld weg, samt einem der Bewohner. Die Gruppe trennt sich, jedoch ist damit die Sache noch lange nicht erledigt. Denn bis in das Jahr 2010 wirft das Ereignis seine Schatten … Bortliks neuer Roman ›Arme Ritter‹ über alternde

Blick auf Testosteron-Diktatur

Roman | Helmut Krausser: Freundschaft und Vergeltung

Helmut Kraussers künstlerische Produktivität ist beeindruckend. Der Schach- und Backgammon-Liebhaber, der am 11. Juli seinen 60. Geburtstag feiert(e), hat nun bereits seinen 19 Roman vorlegt. Darüber hinaus hat er äußerst fleißig Erzählungen, Gedichte, Tagebücher, Opernlibretti, Hörspiele und Theaterstücke veröffentlicht. Im letzten Jahr wurde seine Sinfonie in Aue uraufgeführt. Krausser pendelt oft und gern zwischen hohem künstlerischen Anspruch und klischeehaften Vereinfachungen. Von PETER MOHR

Panik im Urlaubsparadies

Roman | Juli Zeh: Neujahr Die karge Vulkaninsel Lanzarote ist wieder einmal Schauplatz von Juli Zehs neuestem Roman. Hier verbringt ein gestresster deutscher Familienvater und Lektor den Jahreswechsel, kann sich allerdings kaum von Erfolgsdruck und Optimierungszwang erholen. Doch ein folgenreiches Déjà-Vu erklärt seine Angstattacken und Erschöpfungssymptome. Neujahr entpuppt sich zugleich als dramatische Reise zurück zu schrecklichen Kindheitsereignissen. Von INGEBORG JAISER