Normalerweise spielen Menschen oder Tiere die Hauptrolle in Bilderbüchern. Aber was passiert, wenn die Geschehnisse mal aus einer ganz anderen Perspektive betrachtet werden. In zwei neuen Bilderbüchern wird die Welt von aus der Sicht zweier selbstgemachter Gegenstände geschildert: der eines Holzelefanten und der eines Kleides. Spannend! – findet ANDREA WANNER.
Alfred heißt der Elefant, der 1932 aus einem Holzbrett entstand. Die achtjährige Emma hatte die Idee: Sie wollte ihren kleinen Bruder zum Laufen animieren. Alfred sollte ein Geschenk zu seinem zweiten Geburtstag werden. Vom Opa ausgesägt und von Emmi bemalt erfüllt das kleine Rüsseltier auf Rädern seinen Zweck perfekt: Otto ist von dem »Fant« begeistert und rennt dem an einer roten Leine gezogenen Tier sofort nach. So beginnt Alfreds wechselvolles Dasein als Lieblingsspielzeug eines Zweijährigen.
Im Kriegsjahr 1943 werden die Kinder vor den Angriffen auf die Stadt aufs Land in Sicherheit gebracht. Alfred bleibt bei einer Nachbarin zurück – und übersteht die Bombenangriffe nur mit knapper Not. Er wird wiedergefunden, weitergeben, fungiert als Lebensretter und treuer, hölzerner Freund. Neunzig Jahre deutschen Alltags und Weltgeschichte passieren mit ihm als Hauptfigur Revue: Die Weihnachtsgans, die die Hausfrau im Kleid mit weißem Kragen 1954 zum Fest auf den Tisch bringt, findet ebenso ihren Weg in das Buch wie der erste Mensch auf dem Mond im Jahr 1969.
Es macht Spaß, die kleinen Details zu entdecken, die Kristina Heldmann in Bild und Text versteckt hat. Und für Alfreds 90sten Geburtstag hat sie sich eine ganz besondere Überraschung einfallen lassen.
Das zweite Bilderbuch spielt auf einer griechischen Insel. Dort näht eine Mutter ihrer Tochter ein dunkelrotes Kleid mit Blumen, langärmelig mit schwingendem Rock. So sind sie miteinander unterwegs: auf einem Pferdefuhrwerk, auf einem Segelboot, seilhüpfend und durch Kornfelder rennend.
Die weißen Häuser, das blaue Meer und die strahlende Sonne geben eine wunderbare Kulisse ab: Aber es bleibt bei beiden die Sehnsucht nach etwas Außergewöhnlichem, Großartigem. Das soll kommen: Das Mädchen wandert mit ihrer Familie in die USA aus. Und während es dort Fuß fasst und erwachsen wird, liegt das Kleid vergessen in einem Koffer.
Als es das Warten satthat, macht es sich auf die Suche nach dem Mädchen. Es reist um die Welt, landet in Holland, Indien und Afrika um schließlich in einem amerikanischen Secondhandgeschäft zu landen. Wie die märchenhafte Geschichte, die Camille Andros sich ausgedacht und Julie Morstadt in bewegten, kleinen Szenen umgesetzt hat, ausgeht, ist berührend und schön.
Eine tolle Idee, mal ganz andere Akteure zu wählen und zu Wort kommen zu lassen. Zwei Bilderbücher, die den Horizont erweitern und einen ganz besonderen Blick über den Tellerrand ermöglichen. In beiden Geschichten steckt noch so viel mehr, das je nach Alter und Interesse nur drauf wartet, entdeckt zu werden.
Titelangaben
Kristina Heldmann: Alfred. Elefant seit 1932
Berlin: Jacoby & Stuart 2022
64 Seiten, 15 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
Camille Andros: Das Kleid und das Mädchen
(The Dress and the Girl, 2018)
Aus dem Englischen von Gregory C. Zech
Illustriert von Julie Morstad
Zürich, Berlin: Midas 2022
32 Seiten, 18 Euro
Bilderbuch ab 5 Jahren
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander
| Leseprobe