Lockdown im Slough House

Roman | Mick Herron: London Rules

Zum fünften Mal müssen sie Kopf und Kragen riskieren: Jackson Lamb und die unter seiner Führung stehenden aussortierten Agenten des MI5. Denn nachdem die halbe Einwohnerschaft eines idyllischen Dorfes in Derbyshire von einer fünfköpfigen Söldnertruppe ausradiert wurde und mitten in London ein Pinguingehege in die Luft geflogen ist, versuchen sich dunkle Kräfte auch noch an einem Anschlag auf Lambs Computerspezialisten Roderick Ho. Spätestens jetzt wachen das »dösende Nilpferd« Lamb und seine »lahmen Gäule« auf und beginnen, Antworten auf Fragen zu suchen, die ihnen niemand gestellt hat. Doch Unruhe bei den Kaltgestellten wird auch in der Geheimdienstzentrale am Regent’s Park registriert. Und damit Lamb und die Seinen nicht noch mehr durcheinanderbringen, verhängt man über das »Slough House« kurzerhand einen Lockdown. Von DIETMAR JACOBSEN

Regeln sind wichtig. Auch Londons Inlandsgeheimdienst, der MI5, kommt deshalb nicht um bestimmte Grundsätze herum. Denn hielte man sich unter Spionen an keinerlei Ordnung, ginge es ja im Geheimen drunter und drüber. Aber tut es das nicht sowieso in Zeiten wie diesen? Wo sich nicht nur die aussortierten Agenten im von Jackson Lamb geleiteten »Slough House« hemmungslos überschätzen, sondern auch jene Top-Führungskräfte, die am Regent’s Park residieren und, sollte der Fall eintreten, dass man mal eine prekäre Lage nicht ganz so souverän beherrscht wie gewünscht, vor allem nach der Regel Nummer 1 der »London Rules« handeln. Und die besagt: Rette deinen Arsch – und zwar den eigenen vor allen anderen.

Regel Nummer 1: Rette deinen Arsch!

Nun könnte gerade Jackson Lamb diese Regel erfunden haben. Aber der Mann ist besser, als seine Manieren vermuten lassen. Und am besten ist er, wenn es um einen der seiner Führung Anvertrauten geht, auch wenn er sich das nie anmerken lassen würde. Zum Beispiel also Roderick »Roddy«) Ho – nerdig und noch dazu frisch verliebt. Und das zum wahrscheinlich ersten Mal in seinem Leben nicht nur in Hard- und Software, sondern in ein tatsächlich existierendes weibliches Wesen namens Kim. Dass die Gaststudentin aus dem fernen Osten nur dazu angeheuert wurde, über Lambs Mann für alles, was mit Computern zu tun hat, an ein paar brisante Informationen aus der Londoner Geheimdienstzentrale zu kommen, fällt dem Burschen, der sich gerne selbst für unbesiegbar hält, nicht auf. Seinen Kolleginnen und Kollegen aber schon. Und obwohl »Roddy« nicht gerade deren Liebling ist, weiß man ziemlich schnell, welch perfiden Plan aus vergangenen Zeiten er via Kim an ein Grüppchen von Terroristen verraten hat, das im Auftrag des nordkoreanischen Sicherheitsdienstes auf Destabilisierungstour in Großbritannien unterwegs ist.

Mit Jackson Lamb und seinen aus dem aktiven Dienst entfernten Agenten, um die sich in der Zentrale des Inlandsgeheimdienstes MI5 kaum noch jemand schert, es sei denn, man benötigt dringend Sündenböcke, hat der britische Autor Mick Herron (Jahrgang 1963) im Jahr 2010 eine Gruppe von Antihelden erfunden, die sich seither durch acht Romane und zwei Erzählungen gekämpft hat. Mit London Rules ist nun auf Deutsch der fünfte Band der vielfach ausgezeichneten und seit kurzem in Teilen auch verfilmten Reihe erschienen. Und wieder dürfen die Leser wunderbar verschrobenen Charakteren auf deren gewundenen Pfaden durch eine Geheimdienstwelt folgen, die weder mit der von James Bond noch mit jener George Smileys mehr etwas zu tun hat.

Spione sind in Mick Herrons Romanwelt nicht mehr obercool und hartgesotten. Sie reiben sich auch nicht auf im Zwiespalt zwischen Tun und Denken, humanitärer Haltung und inhumanen Methoden. Stattdessen haben sie viel damit zu tun, die Pulverfässer, die ihre Vorgänger ihnen wissentlich oder unwissentlich hinterlassen haben, so gut es geht zu entschärfen, manchmal auch hochgehen zu lassen. Und die übrig gebliebenen alten Hasen wiederum mühen sich vor allem um eines: ihre Stellung zu halten, koste es, was es wolle. Denn von da, wo sie nach mühevollen Jahrzehnten endlich angekommen sind, an der Spitze einer Organisation nämlich, die sich für den Nabel der Welt hält, wollen sie um keinen Preis wieder weg.

»Unwahrscheinlich ist das neue Normal«

Und so läuft es auch diesmal schnell wieder darauf hinaus, die Ausführung eines fiesen, mehrstufigen Plans zu stoppen, der einst im eigenen Hause geschmiedet wurde, um Unruhe in unbotmäßige Länder hineinzutragen. Das hat man irgendwann aufgegeben, ohne gleichzeitig den Plan selbst, nach dem die jeweiligen Interventionen ablaufen sollten, durch den digitalen Schredder zu jagen. Was es der koreanischen Schönheit Kim ermöglicht, ihn dem schwer in sie verknallten Roderick Ho zu entlocken und an eine Gruppe von militanten Landsleuten weiterzureichen. Und während die Punkt für Punkt mitten im England unserer Tage umsetzen, was sich kluge Köpfe vorzeiten in Regent’s Park ausdachten, müht sich die kleine Truppe um Jackson Lamb nach Kräften, das wiedergutzumachen, was einer der ihren im Liebestaumel verbockte.

Auch London Rules ist unter dem Strich wieder ein großes Lesevergnügen. Und das liegt nicht allein an dem Personal, welches Mick Herron in seiner Dependance für gescheiterte Agenten Dienst jenseits jeglicher Vorschriften machen lässt. Denn auch die MI5-Führung und ein paar Spitzenpolitiker kommen nicht viel besser weg als Lambs lahme Gäule und das bedauernswerte Terroristenhäuflein, gegen das man antritt.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Mick Herron: London Rules. Ein Fall für Jackson Lamb
Aus dem Englischen von Stefanie Schäfer
Zürich: Diogenes Verlag 2022
488 Seiten. 18 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Mick Herron in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bücher sind zum Lesen da

Nächster Artikel

Der Igel ermittelt wieder

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Wenn alles aus dem Ruder läuft

Roman | Stefanie vor Schulte: Das dünne Pferd

»Warum muss er finden, was niemand finden will. Warum muss er wissen, dass die Menschen selbst schlimmer sind als alle Dämonen, vor denen sie sich grausen«, hieß es über den 11-jährigen Martin, Protagonist des bitterbösen und gleichzeitig hochmoralischen Debütroman Junge mit schwarzem Hahn (2021) aus der Feder von Stefanie vor Schulte. Als ihr 2021 in Hamburg der Mara-Cassens-Preis verliehen wurde, lobte die Jury: »Mit einer klaren und bildhaften Sprache, schafft es die Autorin, Vergangenheit und Gegenwart in einem zu bündeln, ohne sich in tagespolitische Aussagen zu verlieren.« Noch beklemmender und düsterer geht es nun im dritten Roman der 50-jährigen, in Marburg lebenden Schriftstellerin zu. Mit teilweise derbem Vokabular evoziert sie eine Atmosphäre der Angst. Von PETER MOHR

Ein berückender Entwicklungsroman

Roman | Jean-Michel Guenassia: Der Club der unverbesserlichen Optimisten »Ich ziehe es vor, als Optimist zu leben und mich zu irren, denn als Pessimist zu leben und immer Recht zu haben.« – Der französische Autor Jean-Michel Guenassia debütiert als Romancier mit dem bereits in Frankreich preisgekrönten Roman Der Club der unverbesserlichen Optimisten. Eine gelungene Mischung aus französischem Charme und Intellektualismus mit einer Prise Kitsch und einer Spur Skurrilität – findet HUBERT HOLZMANN.

Ein Arbeitsunfall mit Folgen

Roman | Jo Lendle: Was wir Liebe nennen Was wir Liebe nennen – so heißt der neue Roman des frisch gekürten Hanser-Verlagschefs und Schriftstellers Jo Lendle, der mit seinen Geschichten zu fesseln versteht, diesmal in die Gestalt eines Zauberers schlüpft, mit allerlei Motiven jongliert, den Drahtseilakt über Kontinente hinweg wagt und sein Publikum in den Bann zu ziehen versteht. Manchmal mit doppelbödigen Tricks – findet HUBERT HOLZMANN.

Die Heiterkeit des Unerträglichen

Roman | Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns »Mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte«, bekennt der namen- und alterslose Ich-Erzähler im neuen Roman aus der Feder von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino und funkt damit auf der gleichen emotionalen Frequenz wie die meisten Protagonisten aus den Vorgängerwerken. Über den neuen Roman von Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino Außer uns spricht niemand über uns – von PETER MOHR

Die Erlöserin

Krimi | Bernhard Aichner: Totenfrau Wer möchte schon Brünhilde heißen? Hagen Blums Tochter jedenfalls nicht. Und so beschließt die 16-Jährige, dem Vater, einem bekannten Innsbrucker Bestattungsunternehmer, die Nibelungentreue aufzukündigen und fortan nurmehr unter ihrem Nachnamen aufzutreten. Doch nicht nur in diesem Punkt setzt Blum ihren Kopf durch. Auch der verhassten Adoptiveltern weiß sie sich ein paar Jahre später so raffiniert wie brutal zu entledigen. Und lernt bei der Gelegenheit auch noch den Mann ihres Lebens kennen. Doch wenn das Glück am ungetrübtesten scheint, fangen die Albträume gewöhnlich erst an. Bernhard Aichner neuer Krimi Totenfrau. Von DIETMAR JACOBSEN