Zwölf Wochen

Roman | Bernhard Schlink: Das späte Leben

Erst spät kam der promovierte Jurist und Hochschullehrer Bernhard Schlink zur Schriftstellerei, die er gerne als sein »zweites Leben« bezeichnet. Martin Brehm, der Protagonist seines neuesten Romans, erfährt wiederum Das späte Leben in Form einer deutlich jüngeren Ehefrau und kleinen Sohns. Doch Krankheit und Hinfälligkeit verweisen unbarmherzig auf die Endlichkeit des Lebens. Liest sich dieses Buch der Abschiede wie das endgültige Alterswerk des Autors? Von INGEBORG JAISER

Man stelle sich vor: hartnäckige Müdigkeit und ein unterschwelliges Krankheitsgefühl münden in eine verheerende Diagnose. Bauchspeicheldrüsenkrebs lautet der Befund im Falle des 76jährigen Martin Brehm, eines emeritierten Professors der Rechtswissenschaften und Vater eines noch kleinen Jungen. Der unheilbare Tumor gewährt keinen Aufschub: Bestenfalls ein halbes Jahr gibt der Hausarzt dem Patienten Brehm noch, zum Ende hin in palliativer Pflege.

Die meisten Menschen würden eine solche Prognose wohl mit Angst, Verzweiflung oder gar Wut aufnehmen. Nicht jedoch Brehm, dem nach Verlassen der Praxis merkwürdige Berechnungen durch den Kopf gehen: »Sein erster Gedanke war, dass er statt der Treppe den Aufzug hätte nehmen sollen, jetzt, wo ihm nicht mehr viel Zeit blieb.« Auf zwölf Wochen kürzt er diese begrenzte Lebensspanne selbst herunter. Um zuhause, am Schreibtisch, die anstehenden Termine in erstaunlicher, fast grotesk anmutender Nüchternheit zu selektieren. »Die Notwendigkeit der Zahnvorsorgeuntersuchung und der Krebskontrolle war entfallen«.

Gefühle angesichts des Todes

Dringlich erscheint jedoch die Frage, welches Vermächtnis er seiner dreißig Jahre jüngeren Ehefrau Ulla und seinem kleinen sechsjährigen Sohn David hinterlassen sollte. Und wie mag man seine letzten Wochen gestalten, wenn die Zeit abläuft? »Gab es ein Gefühl, das man angesichts des Todes zu haben hatte?« Noch ist Martin fit genug für eine Wanderung, ein Picknick im Botanischen Garten, etwas Gartenarbeit – und das Verfassen eines Briefes an den Sohn, als Erinnerung und Wegbegleitung für die Zukunft. Nur Ulla, die bodenständige Bauerntochter mit künstlerischem Talent und späterer Karriere als Malerin, reagiert mit eher harscher Zurechtweisung: »Dass du bald stirbst, ist schlimm. Aber wenn du jetzt wehleidig wirst, wird´s noch schlimmer.«

So dominiert Rationalität noch die erste Zeit nach der Hiobsbotschaft. Bis Martin entdeckt, dass seine Frau fremdgeht, regelmäßig von einem jüngeren Mann (»Der eng geschnittene dunkle Anzug, dazu das offene weiße Hemd – ein Geck«) in einem schwarzen BMW abgeholt und zum Mittagessen ausgeführt wird. Vermutlich auch zu mehr. Ist Eifersucht jetzt noch eine angemessene Regung? Für einige Momente nimmt das Geschehen eine detektivische Wendung, aber nur kurz.

Die große, letzte Müdigkeit

Ist es Zufall, dass viele Neuerscheinungen dieser düsteren Jahreszeit um die unbequemen, jedoch existentiellen Fragen unseres Daseins kreisen? Um Verlust und Vergänglichkeit, Alter und Hinfälligkeit, um die Endlichkeit des Lebens und das Abschiednehmen? Paul Austers Baumgartner und Daniel Schreibers Zeit der Verluste haben bereits im November auf das Thema eingestimmt. Doch Bernhard Schlink verleiht seinem todgeweihten Protagonisten eine übermenschliche Beherrschtheit, die schwer nachzuvollziehen ist. »Für das Sterben hatte sein Gewissen noch Anweisungen. Er würde so sterben, dass Ulla und David kein Trauma davontragen würden.« Mag diese nüchterne Sicht eines erfahrenen Juristen (eine biografische Gemeinsamkeit, die der Autor Bernhard Schlink auch seiner Romanfigur Martin Brehm verliehen hat) in der Erkenntnis liegen, »dass nicht die Probleme ihn, sondern dass er die Probleme beherrschte, dass er sie erkennen, formen und lösen konnte«? Wie trügerisch dieser Eindruck sein kann, erfährt Brehm, als er bereits im „vorletzten Kapitel“ seines Lebens angekommen ist und ihn die Hinfälligkeit demütig macht. »Das war noch nicht der Tod, aber vielleicht war er, wenn er kam, so: die große, letzte Müdigkeit, die man dankbar empfängt, weil man endlich nichts mehr muss«.

Schlinks bekannt schnörkelloser Stil, sein lakonischer Tonfall, verleihen diesem Buch der Abschiede eine abgeklärte Zurückhaltung, frei von großer Emotionalität, leider nicht immer ganz frei von Stereotypen. Doch im praktizierten Stoizismus des sterbenden Protagonisten liegt eine bewundernswerte Ruhe, die Gelassenheit lehrt. »Nein, für das Leben lässt sich keine Bilanz ziehen. Man macht dies und das, und am Ende war´s ein Leben. Mehr ist nicht.«

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Bernhard Schlink: Das späte Leben
Zürich: Diogenes 2023
239 Seiten. 26 Euro
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