Sagensema, wat machen Sie für Sachen?

Roman | Jörg Hartmann: Der Lärm des Lebens

Der Lärm des Lebens – das sind jugendlicher Übermut und Hybris, turbulente Familienszenen und satter Ruhrpott-Sound. Wenngleich untermalt von nachdenklichen, zuweilen schmerzlichen Zwischentönen. Der Schauspieler Jörg Hartmann legt mit seinem literarischen Erstlingswerk Autobiographie, Memoir und unverhohlene Liebeserklärung an die Heimat vor. Von INGEBORG JAISER

Man kennt ihn vor allem in der Rolle des Dortmunder Tatort-Kommissars Faber: griesgrämig, psychisch instabil und äußerst launenhaft, mit seinem alten, speckigen Parka wie festgeschweißt. Insider werden sich auch an Auftritte am Nationaltheater Mannheim oder an der Berliner Schaubühne erinnern. Die Rede ist von Jörg Hartmann, der nun sein literarisches Debüt vorlegt. Nicht ganz überraschend, denn bereits Ende des letzten Jahres übertitelte eine große deutsche Tageszeitung die Vorstellung der belletristischen Frühjahrs-Novitäten: »Schon wieder ein Tatort-Kommissar, der ein Buch schreibt«. Kein Wunder, dass sich die Schriftstellerei während der Coronajahre – angesichts der abgesagten Drehtermine und Auftrittsmöglichkeiten – als neues Ausdrucksmedium angeboten und fortan etabliert hat.

Wiedersehensabschied

Um es vorwegzunehmen: neben all den semi- und autofiktionalen Werken anderer Schauspielerkollegen hat Jörg Hartmann ganz bewusst eine autobiographische Familienerzählung verfasst. Eine sehr persönliche Standortbestimmung zwischen der Ruhrgebietsheimat Herdecke, der Ausbildungsstätte Stuttgart und dem späteren Wohnort Berlin/Potsdam. Zugleich eine Zeitreise durch die wechselvolle Familiengeschichte vierer Generationen. Nicht zuletzt ein liebevoller Nachruf für den verstorbenen Vater Hubert, einem lebenslustigen, stadtbekannten Handballer, Dreher, »Frikadellenkönig« und nebenberuflichen Pommesbudenbetreiber.

Ganz sicher liegt im Tod des demenzkranken Vaters auch der Beweggrund für die Entstehung dieses Werks. Das Bemühen, aus dem »persönlichen Korb, in dem es wimmelt vor Eigenem, Ererbtem, Dingen aus grauer Vorzeit« einzigartige Momente festzuhalten und vor dem Vergessen zu bewahren. Nicht umsonst entfaltet sich das zentrale und längste der zwölf Kapitel (»Wiedersehensabschied«) zur wundervollen, wahrhaftigen, vor Humor sprühenden Hommage an den Vater.

Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln

Als Schriftsteller kommt Jörg Hartmann das schauspielerische Faible fürs Szenische zugute, das gestalterische Können, Situationen mit präzisem Blick einzufangen und wiederzugeben. Sein Lärm des Lebens spielt auf mehreren Zeitebenen. Vom Aufbruch und der jugendlichen Sturm-und-Drang-Zeit im Theatermilieu (»in uns brannte die Glut«) über den tiefen Schmerz, während des Sterbens des Vaters zu Dreharbeiten in Prag verpflichtet zu sein, bis zur Rückbesinnung auf die eigenen Wurzeln, auf Herkunft, Heimat, Familie. Aufgewachsen im »gemachten Bett« und getragen von einer vertrauten Verbundenheit, die noch Jahrzehnte später spürbar ist: man kennt sich und versteht sich. Angefangen bei der gemeinsamen Sprache, kernig, direkt, unverblümt, für Bewohner anderer Landstriche zuweilen befremdlich. Mit »Ich glaub, ich hab einen angesetzt« wird baldiger Nachwuchs angekündet, mit »Is schonn scheiße, woll?« eine ehrlich gemeinte Beileidsbekundung.

Sehr viel Persönliches offenbart Jörg Hartmanns Debüt: die kindliche Blamage beim legendären »Sackträgerlauf« oder die Investition des elterlichen Pommesbuden-Erlöses in ein moosgrünes Jugendzimmer des Sohnes (das er bis zu seinem Auszug beibehält). »Uns fehlte nie etwas, auch wenn andere mehr hatten« lautet das überzeugende Resümee der rückblickenden Verortung und Selbstvergewisserung. Diese pralle Sammlung nichtlinear erzählter und mit jedem Kapitel sprunghaft wechselnder Lebensstationen wird durch die leuchtenden Schilderungen alle Theaterenthusiasten, Ruhrpottler, Familienmenschen und Fans des interkulturellen Dialogs begeistern.

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Jörg Hartmann: Der Lärm des Lebens
Hamburg: Rowohlt 2023
298 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Ein bunter Comic-Mix

Nächster Artikel

Zukunfts-Visionen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Die Riesenkrake der mörderischen Vergangenheit taucht auf

Roman | Carlos Busqued: Unter dieser furchterregenden Sonne Wahrscheinlich verdanken wir die Bekanntschaft mit diesem verstörenden Roman dem letztjährigen Gastland der Frankfurter Buchmesse. Jedenfalls hat das Außenministerium der Republik Argentinien die Übersetzung von Dagmar Ploetz gefördert. Sie ist, nach dem Tod von Elke Wehr, wohl die »Erste Adresse« auf diesem Gebiet und sie gewonnen zu haben, auch eine Empfehlung des unbekannten argentinischen Autors. Carlos Busqued wurde 1970 im Norden Argentiniens geboren & lebt heute in Buenos Aires. Nicht dort aber, sondern in Barcelona erschien im vergangenen Jahr sein nun auf Deutsch vorliegender erster Roman ›Unter dieser furchterregenden Sonne‹. Ein furchterregendes

Fastfood für die Fantasie

Kurzprosa | François Loeb: Zeitweichen. Fast-Read-Romane François Loeb ist ein Relikt. Seine Erscheinung erinnert an die eines klassischen Gentleman, nonchalant, gebildet, beredt. Seinen Ruhestand hat sich der weltmännische Unternehmer, Politiker und Autor wohl verdient und darf ihn seinen Lieblingstätigkeiten widmen – ein beneidenswerter Zustand. Es passt zum Image des Bohemien, dass er in einem großen Schweizer Blatt seine Fast-Read-Romane veröffentlichen kann. Die vorliegende Printausgabe widmet er der Zeit. In Zeitweichen begegnet VIOLA STOCKER der Herausforderung, die Zeit nicht unnötig zu vergeuden.

Götter-Dämmerung

Roman | John le Carré: Das Vermächtnis der Spione John le Carré, 86-jähriger Altmeister des Spionageromans, hat einen letzten großen Roman über jene Welt geschrieben, der er selbst eine Zeit lang zugehörte: die der Geheimdienste im Kalten Krieg zwischen Ost und West. Und natürlich darf in diesem Buch auch jene Figur nicht fehlen, die bereits in seinem literarischen Debüt, ›Schatten von gestern‹ (1961), auftrat, freilich noch nicht in der exponierten Stellung, die sie später als Meisterspion im Zentrum von acht weiteren Romanen einnahm: George Smiley. Bevor der selbst auf den letzten Seiten des neuen Buches auftritt, wird darin allerdings eine

Eine »Pastorenzicke« ermittelt

Roman | Helena von Zweigbergk: Was Gott nicht sah

Mit einer Gefängnispastorin als Ermittlerin legt Helena von Zweigbergk ein bemerkenswertes Krimi-Debüt vor. Von BARBARA WEGMANN

Der Mensch ist wie eine Eisschicht

Romane | Als einer von uns Laura Salinas töten wollte / Der letzte Bolero

Obwohl es in beiden neuen Romanen Tote gibt, sind es mehr als Krimis. Benjamín Prado und der im letzten Jahr verstorbene Manuel Vázquez Montalban sorgen für fein gesponnenen psychologisch motivierten Nervenkitzel auf hohem Niveau. Von PETER MOHR