//

Lebensgefährlich

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lebensgefährlich

Ob das schwer zu verstehen sei.

Gut gefragt, Farb.

Doch sei das nicht jedem bekannt.
Das sollte man annehmen.

Der Mensch müsse sich ändern, Tilman, grundlegend ändern, nicht nur daß er seine Energieversorgung neu gestalte, nein, er müsse sich insgesamt in seinem Umgang mit dem Planeten neu orientieren, er tue sich schwer damit und sei sich der Tragweite dieser Umwälzung längst nicht hinreichend bewußt.

So wird es sein, Farb.

Annika blätterte in einem Reisemagazin.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf, er hatte das Blech aus der Küche mitgebracht, der Kuchen war noch warm, und die Schlagsahne, die er sorgfältig auf seinem Stück verteilte, begann sogleich an den Rändern zu verlaufen.
Tilman warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Ein Beispiel, fragte Farb.

Bitte.

Der Mensch hat Angst zu sterben.

Richtig.

Große Angst, Tilman, Angst erstens vor dem Sterben selbst, weil es schmerzhaft sein könne und lange anhaltend und qualvoll, und zweitens vor der Ungewißheit darüber, ob ihn vielleicht danach etwas erwarte.

Man könne das verstehen, Farb, gut verstehen.

Er setze alles in Bewegung, um sein Leben zu erhalten, werfe jeden Sommer die Frage auf, ob ein längeres, gar ewiges Leben möglich werde, vertraue letzten Verheißungen der Medizin, möchte Tote in Eis konservieren und gegebenenfalls wieder auftauen, das Gesundheitswesen sei maximal aufgerüstet, auch immer mal wieder klage er über eine mangelhafte Bereitschaft, Organe zu spenden, er hänge an seinem Leben und wolle es keinesfalls verlieren, er reise aus reinem Vergnügen auf dem Planeten umher – Millionen andere seien auf der Flucht –, er drehe Filme über dessen Schönheit, anrührende Filme auch über Annehmlichkeiten des Lebens, er sortiere ein Welterbe, daß man meinen könne, er sei bei Sinn und Verstand und genieße das Leben.

Er führe Kriege, er verursache Leid und Elend, wandte Annika ein.

Das sei ein anderes Thema, sagte Tilman.

Er fürchte den Tod und möchte vom Leben nicht lassen, sagte Farb.

Exakt, sagte Tilman.

Er müsse diese Wahrnehmung ändern, sagte Farb, er müsse sie umkehren, also das Leben müsse er fürchten, zuallererst.

Annika legte ihr Reisemagazin beiseite und überlegte, ob sie einen weiteren Gast einladen sollten, zu viert könnten sie Doppelkopf spielen, vielleicht den Wette, sie kannte ihn von ihrer Schulzeit.

Tilman tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Wenn man bedenke, sagte er, was der Mensch angerichtet habe.

Das Leben müsse er fürchten, wiederholte Farb, nicht den Tod, das Leben begegne ihm als ein Irrgarten, in dem sich die wenigsten zurechtfänden, heute fasse er einen Vorsatz und führe morgen das Gegenteil aus, die gute Absicht ende in widrigen Umständen, aber nein, er wolle ihn nicht verteidigen, keineswegs, doch falle es dem Menschen schwer, mit dem Leben umzugehen, er wisse wenig damit anzufangen, außer daß er es für eigennützige Zwecke verwende, das nenne er dann ein selbstbestimmtes Leben, darüber hinaus falle ihm nichts ein, er habe da zweifellos etwas falsch verstanden, sein Tun sei destruktiv, und damit stifte er heilloses Durcheinander.

Annika schenkte Tee nach, Yin Zhen.

Tilman aß ein Stück von der Pflaumenschnitte.

Farb dachte darüber nach, ob man dazu nicht lieber eine Tasse Kaffee tränke, und genieße man Yin Zhen nicht ohnehin besser ohne die Pflaumenschnitte.
Annika warf einen Blick zum Gohliser Schlößchen.

Absehbar sei, sagte Farb, worauf das hinauslaufe, der Mensch habe gar nicht vor, Wurzeln zu schlagen, sondern beute den Planeten aus, er verliere die Bodenhaftung, der Planet, ursprünglich als Heimstatt gedacht, sei ihm fremd, ein unsicherer, seit neuestem nur gefährlicher Aufenthaltsort.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Drei Gedichte

Nächster Artikel

Ein Buch fürs ganze Jahr

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Zukunft

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Zukunft

Wir müssen dem Einhalt gebieten!, rief Sut. Empört euch!

Das fängt ja gut an, sagte Mahorner.

Ob das nicht eine Parole von gestern sei, wandte LaBelle ein.

Ich höre ihm gern zu, sagte Pirelli.

London lachte. Sind wir alle angeschlagen von unserer Ausfahrt heute Morgen?

Kartenhaus

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Kartenhaus

Wie ein Kartenhaus also, nein, nicht sicher, sagte Tilman, für einen Kollaps  ließen sich verschiedene Szenarien ausmalen, der Kollaps könne sich hinziehen.

Farb schmunzelte. Da lebe jemand, spottete er, seinen latenten Zynismus aus.

Interessant, sagte Annika und schenkte Tee ein, Yin Zhen, sie hatten das Ming-Service aufgedeckt, rostrot, seit einigen Tagen besaßen sie es auch für drei Personen mit einem lindgrünen Drachen, lieb und teuer, Farb hatte ein Blech Pflaumenkuchen gebacken, für alles war gesorgt, das Wetter meinte es gut, Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Ausrottung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ausrottung

Nein, sagte Termoth, in Kalifornien habe es keine so gravierenden Einschnitte gegeben wie 1832 den Trail of Tears oder 1890 die Schlacht am Wounded Knee, in Kalifornien sei die Ausrottung der Ureinwohner geschmeidig verlaufen, es habe keinen Aufschrei gegeben, und es sei nicht leicht, das Geschehen zu rekonstruieren, zumal die indigenen Stämme bereits von den Spaniern gewaltsam hätten christianisiert werden sollen, doch statt eines Erfolges habe sich Syphilis ausgebreitet und dazu in Epidemien Pocken, Typhus und Cholera, unerfreuliche Mitbringsel der Eroberer – die indigene Bevölkerung, vor der spanischen Missionierung siebzigtausend, sei bis zum Ende der Indianerkriege 1890 um über drei Viertel auf siebzehntausend reduziert worden.

Touste stutzte und spielte einige Töne auf der Mundharmonika.

Thimbleman starrte den Ausguck an.

Crockeye lächelte.

Eldin vergaß den Schmerz in der Schulter.

Flamme

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Flamme

Die Tage zu zählen, sei sinnlos. Die Fangpause, hieß es, werde dauern.

Der Ausguck und Thimbleman hockten am Strand, in Sichtweite der ›Boston‹, sie hatten den Nachmittag über landeinwärts Holz gesammelt, morsche Stücke, leicht brennbar. Nun saßen sie davor, ohne daß sie sich gelangweilt hätten, die Zeit verstrich, sahen zu, wie von Osten gemächlich die Dämmerung heraufzog, der Ausguck entzündete das Feuer.

Sanctus und Touste schlenderten von der ›Boston‹ herüber und gesellten sich dazu, die Flamme züngelte, knisternd bildete sich Glut, niemand sprach oder bewegte sich, sie standen im Bann des Feuers.

Thimbleman legte von Zeit zu Zeit einen Scheit nach, darauf bedacht, die Flamme niedrig zu halten, die Temperaturen waren subtropisch mild, es ließ sich aushalten, das rastlose Flackern zog die Blicke auf sich.

Karttinger 4

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Karttinger 4

Als die Karttinger Nahstoll in seiner Klause zwischen Ahrensburg und Rahlstedt besuchte, unangekündigt besuchte, das brachte ihn auf, schilderte sie ihm, wie in der Vendée das Land, ein weitläufiges Flußdelta, dem Meer abgetrotzt worden sei, das Kanalsystem sei weitläufig erhalten und gehöre ins Ressort Denkmalpflege,  der Sumpf sei trockengelegt, die Hautevolee aus der Hauptstadt habe sich dort eingenistet, sie habe Bücher gelesen, Filme gesehen, erzählte ihm von der Bartholomäusnacht und den Feldzügen gegen die Hugenotten, als hätte er das nicht selbst gewußt, er fand das aufdringlich, doch ihre Stimme schmeichelte seinen Ohren, vom Aufbegehren der Royalisten gegen die Jakobiner, die Vendée sei immer schon widerständig gewesen, auch dieser Tage im Kampf gegen die Rentenreform, doch die Unruhen nähmen überhand.