Die Literatur war für Thomas Hürlimann immer auch ein Spiegel, durch den er auf seine eigene Vita und die bewegte Familiengeschichte schaute. Sein 1994 gestorbener Vater Hans war als Bundespräsident und Innenminister ein profilierter Schweizer Spitzenpolitiker. Um frei schreiben zu können, hatte Hürlimann, der im Dezember seinen 70. Geburtstag gefeiert hat, sogar zwischenzeitlich die Schweiz verlassen und war nach Berlin übergesiedelt. PETER MOHR nimmt uns auf Hürlimanns Abendspaziergang mit dem Kater mit.
»Ich spürte, dass ich diese Geschichte dort nicht schreiben konnte«, hatte Hürlimann im Nachgang über seinen 2006 erschienenen Roman Vierzig Rosen berichtet, in dem er – ebenso wie in den Vorgängerwerken Der große Kater (1998) und Fräulein Stark (2001) – Fragmente aus der eigenen Vita verarbeitet hatte. Ums Fremdsein, um die schmerzhafte Suche nach familiären Wurzeln und einem Wohlfühlort ging es auch in Hürlimanns letztem opulenten Roman Heimkehr (2018) – das erste Werk nach der überstandenen Krebserkrankung.
Der nun vorliegende Band umfasst 24 Prosastücke von höchst unterschiedlichem »Kaliber« – mal erzählend, mal reflektierend, mal autobiografisch, mal höchst politisch. Mehrere Texte sind dem großen dichterischen Vorbild Gottfried Keller gewidmet: »Sein Herz schlug links, doch seine Haltung war die eines Konservativen«, befindet Hürlimann (allzu plakativ) und macht nicht nur bei diesem Versuch des gedanklichen Brückenschlags zu Keller keine allzu glückliche Figur.
Ein wiederkehrendes Motiv in diesem Band ist Hürlimanns schwere Erkrankung, das unabwendbare Näherrücken des Todes, die Ohnmacht gegenüber dem körperlichen Verfall. Vor allem im Text »Meine Reise ins eigene Innere« erhält Hürlimanns Duktus eine elegische Hintergrundmelodie. Kein Wunder, denn es scheint sich ein leidvoller biografischer Kreis nach mehr als vier Jahrzehnten zu schließen. Hürlimanns jüngerer Bruder Matthias war im Februar 1980 nach langer Leidenszeit an Knochenkrebs gestorben. Der Nachruf auf den Bruder ist in diesem Band zum ersten Mal veröffentlicht worden. Ein intimer, beinahe selbstzerfleischender Text.
Auch Hürlimanns Odyssee durch diverse Kliniken, sein zwischenzeitliches Pendeln zwischen Diesseits und Jenseits, die kaum zu greifende emotionale Melange zwischen Resignation und Lebenslust, geht bei der Lektüre zentimetertief unter die Haut. Aber immer schien auch etwas Licht am Ende des Tunnels auf – etwa, als seine damalige Lebensgefährtin, die Schriftstellerin Katja Oskamp, in Berlin den schnellsten Weg zur besten Notaufnahme kannte. Auffallend ist auch die Omnipräsenz der Katzen. Sie begleiten den Leser zyklisch von der ersten bis zur letzten Seite des Bandes.
»Die Welt will den Jungen gefallen, nicht unsereinem, so war es schon immer, so geht es jeder Generation«, resümiert Hürlimann am Ende des Bandes. Der Abendspaziergang mit dem Kater liest sich (nach der langen Leidenszeit) ziemlich larmoyant, wie die finale Bilanz einer der wichtigsten Stimmen der Schweizer Gegenwartsliteratur.
Titelangaben
Thomas Hürlimann: Abendspaziergang mit dem Kater
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2020
299 Seiten. 24 Euro
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