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Aufenthalt

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Aufenthalt

Am besten schicken wir ihn in einer selbstfliegenden Raumkapsel auf den ominösen Planeten 9, jenseits noch von Pluto.

Tilman lachte. Den Mars zu besiedeln, das wäre für jemanden wie ihn keine Herausforderung mehr, diesen Weirdo zieht es nach ferneren Sternen.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin. So jemand, sagte sie, wolle immer der erste sein, wer brauche ihn, für so jemanden sei das Leben ein Schlachtfeld, es gebe schwarz, es gebe weiß, und wer nicht für ihn sei, sei gegen ihn.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Selbstschlagende Sahne, spottete er und lachte, gewonnen von selbstwachsenden Kühen – doch ernsthaft: Planet 9 sei vermutlich ein realer Planet, der, als eigenes Gravitationszentrum mehrere Umlaufbahnen balancierend, im äußeren Sonnensystem vermutet werde, und nein, niemand habe ihn bislang gesehen.

Um so sinnvoller, spottete Farb, daß sich jemand seine Siebenmeilenstiefel anschnalle und sich auf den Weg mache, nach ihm zu suchen, viel Glück.

Mehr, mehr, sprach der kleine Häwelmann, sagte Annika und war amüsiert.

Rechner und das, was als Künstliche Intelligenz angepriesen werde, seien massiv im Einsatz, man investiere gewaltige Summen, sagte Farb, ein jeder, wir sagten es, wolle der erste sein, ihn zu entdecken, einen transneptunischen Planeten mit einer Umlaufzeit in einer Größenordnung von zwanzigtausend terrestrischen Jahren, stets wolle jeder der erste sein.

Sensationell, sagte Annika, lachte und schenkte Tee nach, Yin Zhen, sie hatten ihr Service mit dem Drachenmotiv aufgedeckt, rostrot.

Farb strich die Schlagsahne langsam und sorgfältig glatt und aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

Das Leben, sofern wir diesen schrägen Vögeln glauben, sei Kampf, sei Herausforderung, hier ein Phönix aus der Asche, dort ein gestürzter Favorit, egal, das Publikum sei angenehm unterhalten und jubelt.

Was auch immer, sagte Farb, wer möchte bestreiten, daß diese Prinzipien der sogenannten Moderne, ihre Lebensweise, falsch seien.

Das Gegenteil sei wahr, sagte Tilman, der Mensch müsse sich des irdischen Staubs entledigen.

Irdischer Staub, fragte Farb.

Wohin man schaue, sagte Tilman, werde großes Theater inszeniert, der Mensch feiere sich selbst, er suche flächendeckend gute Laune zu verbreiten, er entfache ein Mordsspektakel, daß die Volksseele kocht.

Farb lachte, die Pferde, spottete er, gehen uns durch.

Tilman griff nach einem Marmorkeks, rückte näher zum Couchtisch und suchte eine schmerzfreie Sitzhaltung einzunehmen.

Auch das, sagte er, man feiere Party, doch das Barometer stehe auf Sturm und niemand sei in Sicht, die Wogen zu glätten.

Was zu tun sei, fragte Annika.

Nichts, sagte Tilman.

Farb schwieg und tat sich eine zweite Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Sahne.

Es bleibe nur, abzuwarten, sagte er, daß der Sturm sich lege und das aufgewühlte Meer zur Ruhe komme, der Mensch könne nichts tun, allenfalls daß er davonlaufe vor den Gewalten der Natur, um Schutz zu suchen, doch den werde er nicht mehr finden, nirgendwo, längst laufe der Mensch ja auch vor seinesgleichen davon und finde keine Bleibe, nein, seine Staumauern und Deiche, konzipiert von seinen ersten, klügsten Ingenieuren, werden die Wassermassen nicht aufhalten, seine Löschflugzeuge werden die lodernden Flammen nicht löschen, und er glaube doch nicht etwa, die Lebewesen würden verschont bleiben, weshalb, nein, niemand werde der erste sein, diese Zeiten seien vorüber, die Luft zu atmen, sie sei verseucht, das Wasser zu trinken sei verschmutzt, nichts, sagte Tilman, nichts könne der Mensch tun außer zu warten, daß sein aufgewühlter Planet vielleicht doch zur Ruhe komme, das Fenster für einen Rückbau gehöre der Vergangenheit an, ihn erwarte ein so qualvolles Ende, daß schon einmal ein Irrläufer auf den Unfug verfalle, den Planeten 9 zu besiedeln.

| WOLF SENFF

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