Der 2020 auf Netflix veröffentlichte Film ›Der Schacht‹ begeisterte Kritiker wie Zuschauer. Nun erschien der lang erwartete zweite Teil. Die Erwartungen waren hoch, ließ die Handlung des ersten Teiles doch Pre- und Sequels zu. Beide Teile sind schon rein stilistisch äußerst gut umgesetzte Horrorthriller. Vorliegend soll es aber nicht um eine Filmkritik gehen. Filme sind Kunst, und Kunst ist subjektiv. Hier nun geht es um den neutralen Blick des Medienhistorikers. Denn ›Der Schacht 2‹ vollbringt es innerhalb seiner 100 Minuten nicht nur eine dystopische Szenerie aufzubauen, sondern diese auch noch bis zum Rand mit komplexer – und in den meisten bisher veröffentlichten Besprechungen offensichtlich nicht verstandener – politischer Ideengeschichte zu füllen. Diese wird hier in den Blick genommen. Anspielungen auch jenseits des Subtextes finden sich zuhauf in Namen, Bezeichnungen und Weiterem, vor allem für die Französische Revolution und die Frühsozialisten. Historisch betrachtet können sie auch im Sinne der kommunistischen Systeme verstanden werden. Bei einer solchen Mehrschichtigkeit des Filmes empfiehlt es sich, den Streifen einmal vor und einmal nach dem Artikel zu sehen – empfiehlt Dr. DANIEL MEIS
Handlungsstrang einer Dystopie
Das Setting beider Teile stellt sich als relativ simpel dar: Im Schacht, einem Gefängnis im Turmformat, befinden sich auf jeder Ebene zwei Inhaftierte. Einmal im Monat werden die Inhaftierten im Schlag neu verteilt. Vielleicht landet man auf Ebene 1 ganz oben, vielleicht landet man auch jenseits der 300. Von oben nach unten wird auf einer schwebenden Plattform einmal täglich das Essen heruntergefahren. Theoretisch soll für alle genug da sein. Im ersten Teil war das Standardszenario noch sehr von egoistischen Verhaltensweisen der Individuen geprägt. Denn die oberen Etagen essen so viel sie können, die mittleren erhalten zumindest Reste, die unteren gar nichts. Jeder isst, so viel man erhalten kann. Innerhalb der Zellen besteht zugleich eine Art zurückhaltende Anarchie. Kannibalismus, Vergewaltigungen und Mord sind nicht ausgeschlossen. Doch gibt es auch gegenseitige Hilfe, Unterstützung und Austausch. Beim Individuum herrscht in der Regel Egoismus vor.
Der zweite Teil eröffnet nun ein völlig anderes Szenario. Innerhalb des Schachtes existiert eine Art politische Ordnung. Wer einst inhaftiert wurde, konnte sich ein Essensgericht aussuchen. Im ersten Teil hatte man davon natürlich kaum etwas, griff doch jeder über einem einfach zu. Im zweiten Teil hingegen gibt es innerhalb des Schachtes festgelegte Regeln. So darf jeder nur das essen, was er einst bestellt hat. Wer etwas anderes möchte, darf tauschen. Die Mahlzeiten Verstorbener dürfen getauscht, müssen aber sonst entsorgt werden. Die Ebenen kommunizieren miteinander und erklären Neuankömmlingen eindringlich die Gesetze. Gewalt untereinander ist untersagt. Nur bei Zuwiderhandlungen gegen die Gesetze wird Gewalt angewandt. Für Durchsetzungen der Regeln sind die jeweils zwei darüber liegenden Ebenen zuständig. Wer ein Gesetz bricht, wird körperlich bestraft, etwa durch Abtrennen eines Armes. Wer zwei Gesetze bricht, wird hingerichtet, in starken Fällen gar durch Folter wie Kannibalismus. An der Spitze der politischen Ordnung steht ein Anführer mitsamt seiner »Gesalbten«. Beim Individuum herrscht in der Regel Solidarität vor.
Soziale Gleichheit durch autoritäre Gerechtigkeit
Im ersten Teil wird die anarchische Ordnung im Schacht nicht aufgebrochen, wenn einmal vom offenen Ende abgesehen wird. Im zweiten Teil aber, der zeitlich vor dem ersten spielt, liegt eine politische Ordnung vor, die infrage gestellt und dann von einer Revolution samt Bürgerkrieg ohne Gewinner hinweggefegt wird. Das Resultat ist die Anarchie des ersten Teiles.
›Der Schacht 2‹ zeigt eindrücklich und mit hervorragender Stilistik, wie humanistisch motivierte, sozialrevolutionäre Ideen sich in Terrorsysteme verwandeln können, welche ihrerseits dann von anderen Sozialrevolutionären beseitigt werden. Die Ordnung im Schacht beruht auf einer Definition von Gerechtigkeit, nach der alle nur das essen sollten, was ihnen zustehe. Nur so gelingt es nämlich, dem Egoismus des Einzelnen zu begegnen. Er würde sonst zusätzlich zum eigenen noch die Mahlzeiten unterer Stockwerke verspeisen. Die Grundidee dahinter lässt sich auf eine simple Maxime bringen: Maßhalten und solidarische Rücksicht auf andere nehmen, die sich in diesem Moment nicht wehren können.
Nun stellen sich natürlich jede Menge Auslegungsfragen solcher Regeln. Was ist beispielsweise, wenn jemand durch Krankheit oder Unfall stirbt? Ganz einfach: die Mahlzeit ist über die Toilette zu entsorgen, sie darf höchstens eingetauscht werden. Niemand soll durch Zufall mehr besitzen, als andere. Diese zu Beginn des Filmes präsentierte Lösung ist eine sehr enge Vorstellung von Gerechtigkeit, hat das Individuum doch selbst keinen Einfluss auf den Eintritt des Zufalls. Zufälle werden folglich durch menschliches Eingreifen im Sinne der Gerechtigkeitsdefinition geradegerückt.
Die Durchsetzung solcher Regeln beruht auf Gewaltanwendung. Der Anführer und die »Gesalbten« befinden sich wie alle Inhaftierten auf diversen Ebenen; hinzu kommen Gesetztestreue und -hüter, die sich an die Regeln halten und ebenfalls durchsetzen. Theoretisch ist jeder dazu verpflichtet, anderenfalls droht Bestrafung. Diese politische Ordnung des Schachts ist damit wenig liberal, vielmehr sehr autoritär. Sie ist allerdings nicht totalitär. Sie will nicht die Menschen verändern, sondern nur ihr äußeres Verhalten. Zudem reicht der lange Arm des Gesetzes offenbar nicht immer in alle Teile des vertikalen Schachtes. Kommunikationsketten brechen ab, einigen kann nicht geholfen werden.
Die Strafen selbst beruhen auf Einschüchterung, weniger auf Resozialisierung. Als beispielsweise in einer Szene statt wie eigentlich vorgesehen zwei Ebenen sich einer Bestrafung in der darunter liegenden Etage widmen möchten, greift eine weitere Ebene aus eigenem Willen zur Durchsetzung der Ordnung ein. Ihre beiden Inhaftierten fahren auf der Plattform hinunter. In den beiden eigentlich zuständigen Zellen bleibt für die Kommunikationskette jeweils eine Person zurück. Die Bestrafung durch den Anführer für dieses gesetzeswidrige Verhalten erfolgt wenig später. Alle Beteiligten erhalten einen Arm abgetrennt, eine »Wiederholungstäterin« wird hingerichtet. Der Anführer spricht klipp und klar aus, dass es um Schrecken und Terror gehe, Gesetze seien einzuhalten und nicht auszulegen.
Revolution gegen etwas, nicht für etwas
Für den Film bedeutet diese Szene einen Handlungswechsel. Die Protagonistin ordnete sich bis dahin ein und wirkte an der Durchsetzung mit, überschritt dabei ihre Kompetenzen durch Gesetzesauslegung und verlor dafür einen Arm. Nun wird sie zur Aufrührerin und beginnt eine Revolution. Körperlich kaum erholt, fährt sie auf der Plattform nach unten und sammelt dabei Inhaftierte ein, die ihre eigenen Gründe zur Mitwirkung an der Rebellion haben. Gesetztestreue wollen sie unterwegs aufhalten, werden aber wahlweise zum Verstummen gebracht, angegriffen oder überzeugt: »Allein wirst du nichts ausrichten. Wenn du dich gegen die Gesetzeshüter auflehnen willst, handle wie sie: als Gruppe.« Einer der ersten Begleiter der Protagonistin bringt das Ziel der Fahrt auf das einfache Fazit: »Niemand darf uns in unserer Freiheit einschränken, niemand! Wir sind erwachsen und lassen uns von niemand etwas vorschreiben.«
Die Gruppe wächst stark an. Wie meistens bei Revolutionen existiert aber kein gemeinsames Programm oder ein durchdachter Gegenentwurf des bestehenden Systems. Der Film führt kunstvoll vor, wie Uneinigkeiten und dann Entsolidarisierungen unter Aufständischen entstehen. Der eine will nur unbegrenzt essen, der andere fühlt sich persönlich vom System im Stich gelassen, der nächste gibt dem Gruppendruck nach. Es ist leicht, gegen etwas zu sein: Die Aufrührer sind gegen die bestehende Ordnung und die Eingriffe in ihr individuelles Verhalten. Es ist aber schwierig, für etwas zu sein: Ziele über die Beseitigung des Bestehenden gibt es keine.
Solche Allianzen sind stets brüchig und halten vorrangig durch die Klammer eines gemeinsamen Gegners. Die aufrührerischen Inhaftierten lachen bald über andere unter sich, lehnen eine Organisierung ihrer Rebellion ab, das Angebot der Gesalbten eines Friedens für Auslieferung der rebellierenden Anführer wird von einigen in Erwägung gezogen, beim Umgang mit Unwilligen der Revolution sind sie uneins, der Zufall bricht sich Bahn. Die Protagonistin will eigentlich nur aus dem Schacht fliehen, und sammelt dafür Inhaftierte um sich, die gegen die bestehende Ordnung rebellieren. Doch sie ist keine Dirigentin. Es kennzeichnet gerade den Verlauf von Revolutionen, dass sich ihre Stoßrichtungen rasch ändern können. Stichwortgeber und Führungspersönlichkeiten verlieren schnell die Gestaltungsmacht über ihre Ideen. Sie bleiben nie lange Herren ihrer Interpretationen, Narrative und der Ausführung ihrer Intentionen. Je länger die Revolution dauert, umso mehr entgleitet sie ihren Erfindern.
Der Anführer des sozialen Terrorsystems im Schacht weiß um eine solche Gefahr. Daher duldet er keine Eigenmächtigkeiten oder Auslegungen. Doch müssen Worte nicht einmal verdreht werden, um einen anderen Sinn zu erhalten. Es reicht, wenn andere Handelnde etwas Abweichendes unter dem gleichen Wort verstehen. Sie müssen das Gesetz nicht auslegen. Wenn sie es anders verstehen oder auffassen, werden sie im guten Glauben handeln. Auch die Protagonistin ging davon aus, alles richtig gemacht zu haben, als sie sich in die Bestrafung anderer einmischte.
Bürgerkrieg
Und so geht die Revolution im Schacht Stock für Stock weiter. Bald kommen auch die Gesalbten und machen auf der Etage über den Rebellen Halt. Man rüstet sich für den Kampf. Die Gesalbten und übrigen Gesetzeshüter nutzen ihre faktische Staatlichkeit und damit Überlegenheit: das Essen auf der Plattform wird vor Ankommen vollständig entsorgt, um die Aufständischen auszuhungern. Der Einwand, auch die auf den Etagen unter den Rebellen liegenden Gesalbten und Gesetzeshüter würden so verhungern, nimmt man als notwendiges Übel hin. Sobald die Rebellen ausgehungert seien, würde man herunterfahren und den ungleichen Kampf ausfechten.
Die Gesalbten sind gezwungen, taktisch vorzugehen. Wenn sie ihre eigenen Leute weiter unten im Schacht verhungern lassen müssen, dient es einem höheren Zweck: dem Sieg über die Revolution, deren Träger sich sonst jeden Monat neu zusammenrotten würden. Der Zweck heiligt in dieser Interpretation die Mittel, schützt er hier doch den künftigen Bestand der bestehenden Ordnung. Man könnte annehmen, humanitäre Bedenken würden dabei über Bord geworfen. Doch es ist gerade andersherum: die Gesalbten wollen ihre humanitär begriffene Ordnung um der sozialen Gerechtigkeit willen aufrechterhalten. Bringen sie keine Opfer in der taktischen Kriegführung, würde später die gesamte Ordnung zusammenbrechen – und damit die soziale Gerechtigkeit im Schacht. Oder wie es der Anführer formuliert: »[D]er Preis ist leider schrecklich hoch. Aber angemessen für die Verteidigung des Gesetzes.«
Eine solche Überzeugung ist geradezu klassisch für Bürgerkriege. Jeder wähnt sich im Recht, alle nehmen an, das Richtige zu machen und der Richtige dafür zu sein. Man geht subjektiv davon aus, objektive Entscheidungen zu treffen zum Besseren anderer und seiner selbst. Absolutheitsansprüche prallen aufeinander und können nicht nachgeben, wollen sie nicht ihre Legitimität verlieren. Im Bürgerkriegen folgen daraus zwangsläufig Radikalisierungen, zumal bisher erlittene Opfer nicht vergebens sein dürfen. Die Rebellen im Schacht geraten insofern auf den Einfall, weiter herunterzufahren. Unterwegs töten sie Gesalbte und Gesetzeshüter und verspeisen sie einfach.
Den Gesalbten bleibt nichts anderes übrig, als hinterherzufahren und es zur finalen Schlacht kommen zu lassen. Zwei Rebellen überleben: die Protagonistin des zweiten und einer der Protagonisten des ersten Teiles. Sie ist jedoch verletzt und verstirbt später. Eine Ordnung wurde gestürzt, kein neues System begründet, Anarchie ist die Folge.
Menschen und Politik
Häufig versuchen sich Filme bei solchen dystopischen oder auch bei sozial- und gesellschaftskritischen Themen an einer politischen Aussage. Das ist hier nicht der Fall. Der Streifen zeigt abwägend zwei radikalisierte Seiten des Schachts: soziale Gleichheit durch ein Terrorsystem versus ausufernden Egoismus ohne weitergehende Ziele. Aber es findet kein Ausschlag zu einer Seite statt. Der Zuschauer soll offensichtlich nicht belehrt, sondern zum eigenen Nachdenken angeregt werden.
In Stilistik und Umsetzung ist ›Der Schacht 2‹ ein mehr als würdiger Nachfolger des ersten Teils. Auch die Handlung ist spannend gestaltet, nimmt den Zuschauer mit auf eine filmische Reise und bietet Unterhaltung. Die komplexen Verbindungen zur politischen Ideengeschichte machen ihn zugleich zu einem subtil zu verstehenden Werk. Insgesamt handelt es sich um einen in jeder Hinsicht sehenswerten Film.
Titelangeben
Der Schacht 2
Spanien
2024, 100 Minuten
Originalsprache: Spanisch
Regie: Galder Gaztelu-Urrutia Munixta
Cast: Milena Smit, Hovik Keuchkerian, Natalia Tena, Óscar Jaenada, Iván Massagué, Zorion Eguileor, Bastien Ughetto, Armando Buika, Pedro Bachura, Antonia San Juan
Produzent: Galder Gaztelu-Urrutia, Munixta, Carlos Juárez, Raquel Perea