Goethe wurde in den letzten 200 Jahren zur wichtigsten identitätsstiftenden Figur der deutschen Kultur. Er wurde zu einer Institution, es entstanden Gesellschaften und Vereine, sein Werk wurde zur Pflichtlektüre in den Schulen, an den Universitäten entstand die Goethephilologie. Mit der Eröffnung des Goethe-Nationalmuseums in Weimar im Jahr 1885 wurde die Stadt selbst zum Goethe-Denkmal. Für die 1885 gegründete Goethe-Gesellschaft war der Weimarer Dichter bereits vor der »Machtergreifung« 1933 weniger der aufgeklärte Humanist und vielmehr der konservative Nationalist. Danach propagierte sie sogar das Bild eines »braunen Goethe« und nutzte es für Regimezwecke. Dies beschreibt W. Daniel Wilson bereits in seinem Buch ›Der faustische Pakt‹ aus dem Jahr 2018. Von DIETER KALTWASSER
In seinem neuen Buch ›Goethe und die Juden – Faszination und Feindschaft‹ liefert Wilson eine »Zusammenschau von hoher Humanität und niedriger Judenfeindschaft bei Goethe«, die schwierig und verstörend ist. Diese Widersprüchlichkeit findet sich allerdings nicht nur bei Goethe, sondern auch beispielsweise bei Philosophen wie Kant und Fichte. Seine Haltungen zu zeitgenössischen Juden ändern sich, so erfährt der Leser, »im Verlauf seines langen Lebens, vor allem unter dem Druck der erschütternden Revolutionsjahre mit ihren Folgen: Krieg und Nationalismus.« Goethe habe sie aber für die Öffentlichkeit anders ausgedrückt als gegenüber seinen Vertrauten im Privaten. Insbesondere war er, und Wilson weist dies in seinem Buch mit vielen Zitaten nach, ein Gegner der Judenemanzipation und er lehnte auch Eheschließungen zwischen Christen und Juden ab.
Er befürwortete wiederholt die Trennung von Juden und Christen. Goethe weist 1808 die flehentliche Bitte von Bettina von Arnim ab, sich für Reformen in Frankfurt einzusetzen, wo die Juden abends und sonntags im Ghetto eingesperrt wurden. Er unterstützte die Berufung des judenfeindlichen Professors Jacob Friedrich Fries nach Jena und schrieb im Juni 1816 in einem Brief an seinen Freund Sulpiz Boisserée: »Die sämtliche Judenschaft erzittert, da ihr grimmiger Gegner nach […] Thüringen kommt. In Jena darf nach alten Gesetzen kein Jude übernachten.«
Als Herzog Carl August im Jahre 1823 die Weimarer Judengesetze weitgehend aufhob und den Juden erlaubte, nichtjüdische Partner zu heiraten, stieß dies auf Goethes grimmigen Protest. Seine emanzipationsfeindlichen Aussprüche gipfelten in dem von seinem engen Freund Friedrich von Müller protokollierten und in dessen »Unterhaltungen Goethes mit dem Kanzler Müller« publizierten Worten: »Ich war kaum gegen 6 Uhr in Goethes Zimmer getreten, als der alte Herr seinen leidenschaftlichen Zorn über unser neues Judengesetz, welches die Heirat zwischen beiden Glaubensverwandten gestattet, ausgoss. Er ahndete die schlimmsten und grellsten Folgen davon, behauptet, wenn der Generalsuperintendent Charakter habe, müsse er lieber seine Stelle niederlegen als eine Jüdin in der Kirche im Namen der Dreifaltigkeit trauen. Aus sittlichen Gefühlen in den Familien, die doch durchaus auf den religiösen ruhten, würden durch ein solch skandalöses Gesetz untergraben, überdies wolle er nur sehen, wie man verhindern wolle, dass einmal eine Jüdin Oberhofmeisterin werde.« Sogar eine Bestechung vermutete er und auch der Name Rothschild fiel.
Was Goethe hier vor allem empörte, war die Option von jüdisch-christlichen Mischehen und der ständische Aufstieg der Juden. Im Vergleich zu fortschrittlichen Zeitgenossen wie Lessing und Humboldt oder Schelling und Hegel blieb Goethes Denken über die Juden in teils archaischen Vorurteilen verhaftet, die schon damals bei liberalen Denkern als überholt galten. »Goethe hielt seine judenfeindlichen Ausfälle«, schreibt Wilson, »in der privaten Sphäre, um sich seinen Ruf bei jüdischen Verehrerinnen und Verehrer nicht zu verderben. Sich selbst sah Goethe als einen »gemäßigten Liberalen«.
Wilsons Fazit: »Unterm Strich war Goethe ein heimlicher Judenfeind, freilich kein extremer, was ihn allerdings nicht entlasten kann.« Diese Widersprüchlichkeit zeichnet nicht nur Goethe aus, sondern auch andere Gelehrte seiner Zeit; sie alle hatten, um ein Wort von Ludwig Börne zu zitieren, in »Judensachen einen Sparren im Kopf«. Wir müssen ihn endlich sehen und offen über ihn diskutieren.
»Goethe – Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit«
Im Untertitel seines neuen Buches über Johann Wolfgang von Goethe weist der Autor und Journalist Thomas Steinfeld schon darauf hin, dass seine neue Goethe-Biographie ein umfassendes Lebens- und Epochenporträt darstellt. Doch kann überhaupt Goethes Rang, sein Kultstatus ins 21. Jahrhundert gerettet werden?
Der Biograf sieht Goethes Leben in zwei Hälften geteilt, deren Wendepunkt die Französische Revolution darstellt. Steinfeld schildert die Zeitspanne von der Französischen Revolution, der Herrschaft Napoleons und den Befreiungskriegen bis hin zur Industrialisierung, von der »Blütezeit des deutschen Geisteslebens« bis zum Beginn der modernen Naturwissenschaften. Er schildert einen Epochenwechsel, der um 1800 stattfand, und den Menschen Goethe, der diese Umbrüche miterlebte und sich ihnen stellte, nicht allein als Dichter und Fürstenberater am Weimarer Hof, er schildert einen Menschen voller Ambivalenzen und Widersprüche, der sich auch als Theatermacher, Reisender, Politiker, Kriegsberichterstatter und Naturforscher betätigte. Goethe bekannte sich zur Diversität seiner Verfahren und zu der ihm eigenen pluralen Denkweise, wenn er von sich sagte: »Als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden wie das andre. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit, als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, dass die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen.«
Am 17. Februar 1832, ein Monat vor seinem Tod, sah sich Goethe in einem Gespräch mit seinem Freund Frédéric Soret als ein »Kollektivwesen«: »Was bin ich denn selbst? Was habe ich gemacht? … Zu meinen Werken haben Tausende von Einzelwesen das ihrige beigetragen, …, mein Lebenswerk ist das eines Kollektivwesens, und dies Werk trägt den Namen Goethe.« Steinfelds neue Goethe-Biografie eröffnet Wege zu einem neuen Goethe-Bild.
Titelangaben
W. Daniel Wilson: Goethe und die Juden. Faszination und Feindschaft
München: C.H. Beck 2024
351 Seiten, 29,90 Euro
| Leseprobe
Thomas Steinfeld: Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit
Berlin: Rowohlt 2024
784 Seiten, 38 Euro