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Projekt »Seelenfrieden«

Roman | John Ajvide Lindqvist: Signum

Mit Signum setzt der schwedische Bestsellerautor John Ajvide Lindqvist nach Refugium seine Mittsommer-Trilogie fort. Wieder stehen die Schriftstellerin und Ex-Polizistin Julia Malmros und der 20 Jahre jüngere Hacker Kim Ribbing im Mittelpunkt. Letzterer hatte am Ende von Band 1 den »Schockdoktor« Martin Rudbeck in seine Gewalt gebracht. Denn er war eines jener jugendlichen Opfer, denen Rudbeck mit rabiaten, an Sadismus grenzenden Methoden ihre Psychosen auszutreiben versuchte. Nun findet sich der Mann im Keller von Ribbings Haus genauso angekettet wieder, wie er einst die ihm anvertrauten jungen Menschen in seiner Klinik in Fesseln gelegt hatte, um sie mit Elektroschocks zu quälen. Aber worauf soll Kims Racheaktion eigentlich hinauslaufen? Derweil recherchiert Julia im Umkreis der rechtsradikalen »Wahren Schweden« und bringt sich und ihre Freunde erneut in große Gefahr. Von DIETMAR JACOBSEN

Nach dem Tod seiner Eltern und seines Großvaters war der schwer traumatisierte Kim Ribbing einst in der Klinik des Psychiaters Martin Rudbeck gelandet. Allein die Behandlung durch den später von der Presse so genannten »Schockdoktor«, die in ihrer sadistischen Brutalität eher einer Folter gleichkam, hat in dem Heranwachsenden lediglich den Impuls, sich eines Tages an dem Arzt zu rächen, erzeugt. Dieser Tag scheint nun gekommen. Nachdem Kim gemeinsam mit der Schriftstellerin und Ex-Polizistin Julia Malmros die Hintergründe eines am Mittsommertag auf einer der Stockholm vorgelagerten Schäreninseln geschehenen Massakers aufgeklärt hat, fand er es endlich an der Zeit, seinen Racheplan in die Tat umzusetzen und den verhassten Mediziner in seine Gewalt zu bringen.

Auge um Auge – und was dann?

Derweil sucht Julia, aus deren Romanen gerade eine Fernsehserie gemacht wird, nach einem neuen Thema. Gegenwärtiger soll das sein, brisanter und realistischer, denn beim Blick auf die ersten Folgen der Serie ist ihr schnell klar geworden, dass ihre literarische Herangehensweise an die Wirklichkeit wohl immer noch als zu »märchenhaft« verstanden werden kann. Also sucht sie nach einem harten Stoff. Und was wäre da zur Zeit geeigneter als der rasante Aufstieg der »Wahren Schweden«, einer jener immigrantenfeindlichen, rechtsradikalen Parteien, wie sie im Zuge der Flüchtlingskrise gerade in etlichen europäischen Ländern die Demokratien zu unterwandern suchen.

Dass Recherchen um das rechtsradikale Milieu und ein geplanter Roman, der in dessen Umfeld spielen soll, alles andere als ungefährlich sind, bekommt Julia Malmros schnell zu spüren. Informanten aus der Szene lassen sich kaum finden. Und wenn, dann machen sie Julia klar, dass es lebensgefährlich sein kann, sich für die tatsächlichen Ziele der von verurteilten Straftätern durchsetzten Partei zu interessieren. Zumal deren führende Mitglieder hauptsächlich über Internetplattformen kommunizieren und sich der Rockerbande »Apostates« bedienen, wenn es gilt, Härte zu demonstrieren. Doch einmal auf der Spur, lässt sich Lindqvists Heldin auch durch aggressive Drohungen nicht von ihren Nachforschungen, bei denen sie von einer alten Freundin und Schriftstellerkollegin unterstützt wird, abbringen.

Die »Wahren Schweden«

Dass die Entführung seines einstigen Peinigers zwar einer gewissen Logik folgte, letzten Endes aber doch keine so gute Idee war, merkt Kim übrigens schnell. Zumal er nur wenige Tage später vor der Leiche des bereits von einem seiner Schüler bei der Polizei als vermisst Gemeldeten steht. Und sowohl Julia als auch die 14-jährige Astrid Helander – die überlebende Tochter jener Industriellenfamilie, die in jenem Band 1 der Reihe eröffnenden Massaker am Mittsommertag zu Tode gekommen war und der sich Kim angenommen hatte – sehen sich plötzlich in eine Geschichte mit hineingezogen, die sie vor schwierige moralisch-ethische Entscheidungen stellt.

Geschickt verbindet John Ajvide Lindqvist in seinem zweiten Spannungsroman – der 1968 Geborene ist in seiner Heimat und durch Übersetzungen in mehr als 30 Ländern bisher vor allem als Autor von Horrorromanen und -erzählungen hervorgetreten – aktuelle Probleme der gegenwärtigen europäischen Gesellschaften mit einer spannenden Rachegeschichte. Durch kurze, übersichtliche Kapitel, in denen jeweils die Perspektiven wechseln, schafft er es, seinen Leserinnen und Lesern ein unterhaltsames Gemisch aus Gegenwartskritik und Thrillerspannung zu servieren.

Ein routiniert geschriebener Pageturner mit Anspielungen auf unser aller Gegenwart

Auch Teil 2 der auf drei Bände angelegten Geschichte um die Schriftstellerin Malmros und den PC-Nerd Ribbing erweist sich wieder als routiniert geschriebener Pageturner von hohem Tempo. Die Geschichte, die er erzählt, hat viel mit den Unsicherheiten zu tun, die unsere gegenwärtige Welt erschüttern. Rechtsradikale Bewegungen, Fremdenfeindlichkeit, Asylantenströme und der zunehmende Hang zu Gewalt statt Gesprächen, Fäusten statt Argumenten, Hass statt Verständigung prägen nicht nur das Leben im Schweden unserer Tage.

Und wie bereits im ersten Band der Reihe schimmert auch in dessen Fortsetzung wieder das große Vorbild Lindqvists – die inzwischen mehrfach verfilmte Millenium-Trilogie des 2004 verstorbenen, legendären Journalisten und Autors Stieg Larsson rund um den Investigativ-Reporter Mikael Blomkvist und die geniale Hackerin Lisbeth Salander, für deren Fortsetzung nach Larssons Tod Lindqvist selbst einmal als Autor im Gespräch war – durch. Nur hat man es in Signum halt mit vertauschten Rollen – aus Blomkvist ist Malmros, aus Salander Ribbing geworden – zu tun. Alles in allem aber rückt mit John Ajvide Lindqvist ein weiterer Autor aus Europas Norden in den Fokus der deutschsprachigen Leserinnen und Leser von Spannungsliteratur. Und der braucht sich wahrlich nicht hinter all jenen seiner Kolleginnen und Kollegen zu verstecken, die bis dato für das Markenzeichen »Schwedenkrimi« standen.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
John Ajvide Lindqvist: Signum
Aus dem Schwedischen von Ricarda Essrich und Thorsten Alms
München: dtv 2024
494 Seiten. 22 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

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