//

Hitze

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Hitze

Wie schön!

Die Dinge bewegen sich, Annika, sie nehmen Fahrt auf.

Das kann man so sehen.

Die Glut bricht durch die Oberfläche, die verkrusteten Verhältnisse werden aufgeweicht.

Ein Lebenszeichen.

Herrlich, sagte Farb, man möchte meinen, der Planet wache auf.

Oder einfach nur, daß er sich in seiner Ruhe gestört fühle.

Farb lachte. Wut und Ärger als Beweggrund, mag sein, jedenfalls reagiere er höchst lebendig, er sei erzürnt, wer könne ihm das verübeln.

Der Ausbruch habe sich angebahnt, sagte Tilman, es habe Zeichen gegeben, die man hätte lesen können, überall, besorgniserregende Zeichen, zum Beispiel jener Schlammvulkan Lusi, Lumpur Sidoarjo, auf Java, zwanzig Kilometer südlich von Surabaýa, seit Mai 2006 legten sich Tag für Tag bis zu 180.000 m³ Schlamm über das Land, dreckig, stinkend, unaufhaltsam, der Planet, möchte man meinen, kotze sich aus, auch dieses ein Lebenszeichen, wenngleich wenig ermutigend für Homo sapiens, und niemand halte es für nötig, nach Gründen zu fragen.

Kein freudiges Erwachen.

Sicher nicht, Annika, der Planet leidet, er ist erzürnt.

Man müsse ihn zu lesen suchen, sagte Tilman, Zittern, Schweißausbrüche, heftige Temperaturschwankungen, was könne man tun, er liege im Fieber, die Dinge seien kompliziert, das Fieber könne bereits der Prozeß der Genesung sein, die Erkrankung werde ausgeschwitzt.

Farb lachte und nahm sich eine Pflaumenschnitte. Wadenwickel wären hilfreich, spottete er, aber wo legst du einem Planeten Wadenwickel an.

Galgenhumor, sagte Annika, blätterte in einem Reisemagazin und überlegte, ob sie nicht eine vierte Person einladen sollten, so könnten sie Doppelkopf spielen.

Farb nahm sich einen Löffel Sahne auf den Kuchen und strich sie sorgfältig glatt.

Nein, der Mensch habe vom Denken Abschied genommen, sagte er, nun messe er und zähle, und er sei überzeugt, die Intelligenz arbeite wie eine Rechenmaschine, künstliche Intelligenz eben.

Auf Island, sagte Tilman, habe sich erneut ein höllisches Feuer entfacht, die Erde tue sich in einem kilometerlangen Spalt auf, aus tiefen Abgründen ergieße sich verflüssigtes Gestein, er lächelte, der Mensch könne das erklären, selbstverständlich, klar doch: zwei kontinentale Platten bewegten sich aneinander usw., Standarderklärung, überall nachzulesen, nicht neu und längst zur Genüge bekannt, Plastikmüll, aber verstehen, nein, er verstehe das nicht, der neunmalkluge Homo sapiens, und darüber nachzudenken, nein, da zeige er keine Ambition, und diese Abläufe verstehen, nicht doch, weshalb, habe er das nötig.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Es werde nicht bei Hitze, Zittern, Schweißausbrüchen bleiben, sagte Farb, man müsse die Zeichen lesen, sagte er, die aussterbenden Arten, die strandenden Wale, die extremen Wetterlagen, die sich ausbreitenden Krankheiten.

Farb aß ein Stück von seiner Pflaumenschnitte.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Manche Menschen treffen einen hart

Nächster Artikel

Synästhetische Purzelbäume

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Den Atem verschlagen

Kurzprosa | Armin T. Wegner: Der Knabe Hüssein und andere Erzählungen Die Vergessenen dem Vergessen zu entreißen, das war das erklärte Ziel von Volker Weidermann mit seinem Buch der verbrannten Bücher. Es wurde vor fünf Jahren schnell zum Bestseller und rief Namen ins kollektive Gedächtnis zurück, die von den Nazis im Mai 1933 ein für alle Mal aus der Erinnerung ausgelöscht werden sollten. Und für eine sehr lange Zeit tatsächlich auch wurden. Unter den über hundert Autoren, die der Feuilletonchef der FAS damals porträtierte, war auch Armin T. Wegner, einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Weimarer Republik. Seine Erzählungen Der Knabe

Krieg und Frieden

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Krieg und Frieden

Tilman schenkte Tee nach.

Farb legte sich ein Stück Pflaumenkuchen auf.

An einem ruhigen, milden Nachmittag neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen.

Ob das so alles richtig sei, fragte Anne.

Kitsch, sagte Farb, wir leben ein kitschiges Idyll, gänzlich unzeitgemäß.

Erzähler und Zuhörer

Kurzprosa | Uwe Timm: Montaignes Turm »Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir suchen nach dem Vollkommenen im anderen«, erklärte der männliche Protagonist Eschenbach in Uwe Timms letztem Roman Vogelweide (2013). Mit diesem äußerst anspielungsreichen Buch hatte Timm nicht nur einmal mehr seine immense Vielseitigkeit unter Beweis gestellt, sondern den Gipfel seines bisherigen künstlerischen Schaffens erklommen. Jetzt ist sein Essayband Montaignes Turm zu seinem 75. Geburtstag am 30. März erschienen. Von PETER MOHR

Irrfahrt mit dem Navigator

Kurzprosa | Hartmut Lange: Der Lichthof

»Es gibt kein Problem, das man nicht aus der Welt schaffen kann. Man muss nur verstehen, worum es geht«, lässt der inzwischen 83-jährige Hartmut Lange eine seiner Figuren, den Politologen Ronnefelder gleich zweimal sagen. Das klingt Lange-untypisch, fast simpel, beinahe wie ein Kalenderspruch aus einem philosophischen Ratgeber. Vom Berliner Novellisten ist man anderes gewohnt: jede Menge Düsternis, Rätselhaftigkeiten, tiefe seelische Abgründe und bisweilen schaurige Naturbeschreibungen, die er zumeist an einsamen Ufern der vielen Seen im Berliner Umland angesiedelt hat. PETER MOHR hat den neuen Novellenband von Hartmut Lange Der Lichthof gelesen.

Liebesgeschichte und Tragödie

Kurzprosa | Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642

Liebesgeschichte und Tragödie auf Deshima. Im 17. Jahrhundert waren die Holländer die einzigen westlichen Ausländer, mit denen die Japaner Handel trieben. Sie mussten auf einer kleinen Halbinsel vor Nagasaki wohnen, streng kontrolliert. Aber manchmal kam es doch zu kuklturverwirrenden Begegnungen. Christine Wunnicke, eine grandiose Erzählerin von Geschichten aus dem Fernen Osten, erzählt von einer Rache, die sich viel Zeit gelassen hat. Von GEORG PATZER