Spannend wie ein Kriminalroman

Roman | Thomas Strässle: Fluchtnovelle

In Fluchtnovelle, seinem literarischen Debüt, erzählt der Schweizer Germanist Thomas Strässle das wichtigste Kapitel aus dem Leben seiner Eltern. Man schreibt das Jahr 1966. In England laufen die Spiele der achten Fußballweltmeisterschaft, als sich eine junge Frau aus der DDR und ein Schweizer Student, die sich im thüringischen Erfurt kennengelernt haben, dazu entschließen, ihr Leben fortan gemeinsam zu verbringen. Und schnell ist man sich auch darüber einig, dass man nicht in einem Land leben will, dass seine Bürgerinnen und Bürger nicht nur gängelt, sondern auch bespitzelt und ihrer grundlegenden Freiheiten beraubt. Also plant man die Flucht der Studentin aus dem Osten Deutschlands. Eine Flucht, die Thomas Strässle so minutiös und spannend beschreiben kann, weil sie den Beginn der Geschichte seiner Eltern markiert und er wahrscheinlich gar nicht existieren würde, hätten die sich vor mehr als 50 Jahren von ihrem Plan abschrecken lassen. Von DIETMAR JACOBSEN

Der Hatschek, jener kleine, im deutschen Alphabet unbekannte »Winkel über dem Buchstaben, nach oben geöffnet und nach unten zulaufend, aber mit gebrochener Spitze«, macht Thomas Strässles Vater die meisten Schwierigkeiten. Aber er wird gebraucht für die Fälschung eines Stempels, der bei dem Nachweis helfen soll, dass die Person, in deren Pass sich eben dieser Stempel befindet, aus der Schweiz über Prag in die ČSSR eingereist ist. Und folgerichtig auf derselben Strecke auch wieder in ihr Heimatland zurückfliegen kann. Nur ist die junge, 21-jährige Studentin, die sich des mit einem gefälschten Stempel versehenen Passes bedienen soll, keine Schweizerin, sondern eine Bürgerin der DDR. Und der ostdeutsche Staat ließ bekanntlich, wenn jemand ihn auf illegalem Wege und für immer verlassen wollte, nicht mit sich spaßen.

Spiel mit dem Feuer

Fluchtnovelle ist Thomas Strässles literarisches Debüt. Der 1972 im schweizerischen Baden geborene und heute als Germanist und Musiker mit Konzertdiplom an verschiedenen Orten und in verschiedenen Funktionen in seiner Schweizer Heimat unterwegs, hat darin die Geschichte zweier junger Menschen rund um jenes entscheidende Ereignis erzählt, ohne das er selbst wohl nicht auf der Welt wäre. Denn seine in der DDR groß gewordene Mutter und sein Schweizer Vater bekamen es, nachdem sie sich, beide auf studentischen Exkursionen unterwegs, im ostdeutschen Erfurt kennengelernt hatten und schon bald von einer gemeinsamen Zukunft träumten, mit dem größten Hindernis zu tun, das sich einer jungen Liebe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entgegenstellen konnte: dem sogenannten »Eisernen Vorhang« zwischen Ost und West.

Weil es für Strässles Vater unvorstellbar war, aus dem liberalen, weltoffenen Klima, in dem er aufgewachsen war, in die das Leben jeder und jedes einzelnen ihrer Bürgerinnen und Bürger bis in die privatesten Winkel hinein reglementierende ostdeutsche Republik zu wechseln, denkt das Pärchen schon bald über einen Weg nach, wie es, ohne sie oder ihn oder beider Familien in Gefahr zu bringen, in den Westen kommen könnte. Geld hat man keins, weshalb der von einem DDR-Anwalt angeregte Freikauf der jungen Frau – »Wir müssten Ihnen die Kosten für die gesamte Ausbildung anlasten, Und auch das, was Sie dem Staat in den nächsten vier Jahren gebracht hätten.« – von vornherein nicht in Frage kommt. Alles scheint also auf eine illegale Aktion hinauszulaufen. Wobei riskante Ballonflüge, Routen über das Meer oder über Land, in dunklen Kofferräumen versteckt, automatisch ausgeschlossen werden. Was schließlich bleibt, ist eine raffiniert erdachte und minutiös ins Werk gesetzte Flucht, die sich als Einreise tarnt.

Echter Pass und falscher Stempel

Mit einem über eine Bekannte besorgten originalen Schweizer Pass, versehen mit einem gefälschten Einreisestempel, soll das raffinierte Täuschungsmanöver an einem Julitag des Jahres 1966 in die Tat umgesetzt werden. Allein auch hier gilt: Das eine ist der Plan, das andere die Umsetzung, das eine die Theorie, das andere die sich davon häufig recht deutlich unterscheidende Praxis. Und so genau man die Vorbereitungen für die Flucht auch zusammen betrieben hat – allein die Tatsache, dass sich Farbe und Aussehen des tschechoslowakischen Einreisestempels offensichtlich kurz vor dem Tag X geändert haben, bringt das Vorhaben des Pärchens plötzlich fast zum Scheitern.

Um es mit einem Begriff aus der Novellentheorie zu sagen: Es retardiert ganz gewaltig in der zweiten Hälfte von Thomas Strässles Text. Denn das Malheur mit dem Stempel bleibt nicht das einzige, dass sich einer erfolgreichen Umsetzung des kühnen Plans in den Weg stellt und damit neue und nicht ungefährliche Aktionen provoziert. Da wird zum Beispiel die zufällige Begegnung mit einem Dresdener Kommilitonen der jungen Frau – man hat gemeinsam Kunsterziehungsseminare besucht – zum schweißtreibenden Erlebnis. Ist der Mann, fragen sich Strässles gestresste Helden, am Ende ein ihnen nachgeschickter Stasi-Agent, der nur den richtigen Moment abwartet, um sie hochgehen zu lassen? Selbst als man am Tag des Abfluges bereits Grenz- und Sicherheitskontrollen hinter sich hat und gemeinsam mit den anderen Passagieren am Gate darauf wartet, das Flugzeug in die Freiheit betreten zu dürfen, hören die Schrecken nicht auf. Denn plötzlich findet sich das Paar inmitten von Menschen, die allesamt ein breites Sächsisch sprechen. Doch es sind nur Mitglieder eines Orchesters, das zu einer Südamerika-Tournee aufbricht.

Zwei Menschen gegen die Macht der Systeme

Thomas Strässle erzählt die Geschichte von der Flucht seiner Eltern in 27 kurzen Kapiteln. In den chronologischen Ablauf hineinmontiert hat er fiktive Gesprächsteile zwischen den beiden Hauptpersonen, historische Zeitungsausschnitte und Auszüge aus schweizerischen und ostdeutschen Gesetzestexten. In einem der letzten Kapitel heißt es dann: Nach der gelungenen Flucht »fangen viele neue Geschichten an.« Eine davon ist die, in deren Verlauf am 13. April 1972 ein Mensch zur Welt kommt, der sich Jahrzehnte später entschließen wird, aus der Flucht seiner Eltern ein Stück Literatur zu machen. Und so besitzen Leserinnen und Leser nun mit der vorliegenden Novelle eine ebenso spannende wie historisch genaue Geschichte über eine Liebe, mit der sich zwei Menschen der Macht der Systeme entgegenstellten, um schlussendlich zu triumphieren.

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Thomas Strässle: Fluchtnovelle
Berlin: Suhrkamp Verlag 2024
123 Seiten. 18 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Kreative Problemlösungen

Nächster Artikel

Oldietown und Parzival

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Kampf um das Inselparadies

Roman | Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest

»Es geht in diesem Prozess gar nicht um meinen Roman, sondern um Ideologie«, hatte Nobelpreisträger Orhan Pamuk kürzlich in einem Interview erklärt. Mehrmals hatte ihn die Staatsanwaltschaft zum Verhör einbestellt, nachdem die große türkische Tageszeitung Hürriyet eine regelrechte Hetzjagd gegen den Schriftsteller inszeniert hatte. »Was bezweckt Orhan Pamuk damit, dass er Atatürk verhöhnt? Will er einen Aufruhr anzetteln? Will er dem Ausland eine Botschaft senden?«, lauteten die rein rhetorischen Fragen des Chefredakteurs Ahmet Hakan. Dieses verbale Säbelrasseln am Bosporus im Vorfeld des Erscheinens der deutschen Übersetzung erschwert eine unbefangene Lektüre des neuen anspielungsreichen und ausschweifenden Pamuk-Epos. Von PETER MOHR

Panik im Urlaubsparadies

Roman | Juli Zeh: Neujahr Die karge Vulkaninsel Lanzarote ist wieder einmal Schauplatz von Juli Zehs neuestem Roman. Hier verbringt ein gestresster deutscher Familienvater und Lektor den Jahreswechsel, kann sich allerdings kaum von Erfolgsdruck und Optimierungszwang erholen. Doch ein folgenreiches Déjà-Vu erklärt seine Angstattacken und Erschöpfungssymptome. Neujahr entpuppt sich zugleich als dramatische Reise zurück zu schrecklichen Kindheitsereignissen. Von INGEBORG JAISER

Jakob Francks zweiter Fall

Roman | Friedrich Ani: Ermordung des Glücks In Friedrich Anis Roman Ermordung des Glücks spielt zum zweiten Mal nach Der namenlose Tag (2015, Deutscher Krimipreis national 2016) der Münchner Ex-Polizist Jakob Franck die Hauptrolle. Diesmal ist ein elfjähriger Junge ermordet worden – und während sich die Mutter im Schmerz vergräbt und der Vater Rachepläne schmiedet, weil er glaubt, den Täter zu kennen, versucht Anis Held alles Menschenmögliche, um zu verhindern, dass aus Unheil noch größeres Unheil erwächst. Von DIETMAR JACOBSEN

Ein Superheld im Super-Wirr-Warr

Roman| Alina Bronsky: Nenn mich einfach Superheld Wie kann das arme Opfer eines Kampfhundunfalls ein Superheld sein? In Alina Bronskys Roman Nenn mich einfach Superheld beweist Marek genau dies, indem er das Leben mit all seinen Problemen, Verrücktheiten und Liebeleien gekonnt meistert – mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus in petto. Von ANNA NISCH

Bekenntnisse in der Todeszelle

Roman | Les Edgerton: Der Vergewaltiger Truman Ferris Pinter sitzt in der Todeszelle. Der 44-Jährige hat eine junge Frau in seinem Heimatdorf vergewaltigt. Dass er sie danach ermordet haben soll, bestreitet er allerdings. Nun, da die letzten 12 Stunden seines Lebens angebrochen sind, legt er Rechenschaft ab – vor uns, den Lesern des kleinen Romans von Les Edgerton, die er auch hin und wieder als Ansprechpartner benutzt. Ein gemeiner Trick, denn so werden wir, ob wir es wollen oder nicht, zu Vertrauten eines Monsters. Von DIETMAR JACOBSEN