Gleißende Tage, schlaflose Nächte

Roman | Nina Bußmann: Drei Wochen im August

Ist das nicht ein verlockendes Angebot: Drei Wochen im August, mitten in der Hochsaison, ein Haus an der französischen Atlantikküste überlassen zu bekommen, mietfrei und ohne Verpflichtungen? Doch Vorsicht ist geboten. Nina Bußmann inszeniert in ihrem neuen Roman ein psychologisches Kammerspiel mit unzuverlässigen Akteuren und apokalyptischen Gefahren. Von INGEBORG JAISER

Etwas abgeschieden liegt das Anwesen schon: »Fünf Kilometer zum Bahnhof, vier zum Supermarkt und sechs zum Strand.« Doch Elena sagt sofort zu, als ihr ihre Chefin und Freundin Ali aufgrund eines schweren Krankheitsfalles dieses Haus offeriert. Genau genommen liegt die Eigentümerin gerade im Sterben.

Fragile Feriengemeinschaft

Für Elena, die freie Kuratorin mit einer eher symbolischen Vergütung (»wir leben vom Geld meiner Mutter und dem Gehalt meines Mannes«) ist dies die einmalige Chance, unbeschwerte Sommerferien mit ihren Lieben zu verbringen und Abstand zu gewinnen. Denn zuhause kriselt es. Dabei ist die Familie ein kleines bisschen zu alternativ, um als saturiert zu gelten, auf jeden Fall zu dysfunktional, um eine heile Welt vorgaukeln zu können. Der geschäftige Ehemann Kolja will später nachkommen, denn erst mal hat er noch die Böden abzuschleifen, Hochbetten zu bauen, Obst einzukochen. So fährt Elena ohne ihn, mit dem sechsjährigen Rinus und der dreizehnjährigen Linn – beide sehr spezielle Kinder, die Schaden an dieser Welt genommen haben und nur noch schwer integrierbar erscheinen. Es wäre unfair, ihnen verlässliche Diagnosen zuzuschreiben.

Rinus wurde wieder aus dem Kindergarten genommen und lebt in seiner eigenen Welt. Linn hat einige Zeit in einer Klinik zugebracht, zu viele Kilos zugenommen und verschanzt sich unter unförmigen XXL-Klamotten (»Und ich wüsste gerne, was sie unter dieser Hülle versteckt. Einen Buckel. Ein Paar Flügel.«). Geradezu unerlässlich erscheint die Begleitung von Eve, die den ganzen Laden am Laufen hält: toughe Haushaltshilfe, Nanny und Chauffeurin, scheinbar beste Freundin und Gefährtin. Und damit auch der lethargischen Linn eine Gespielin zugestanden wird, darf ihre Klinikbekanntschaft Noémi mitkommen, ein kapriziöses Mädchen, die sich in ihren Unverträglichkeiten wohlig eingerichtet hat, ihre Mandelmilch nur mit Strohhalm trinkt und Stühle vor dem Hinsetzen desinfiziert.

Brennende Wälder

Schon diese ungleiche Feriengesellschaft, die in der abgeschiedenen Villa mit poolartigem Naturschwimmbecken (»Natur wurde es genannt, weil jemand keine Lust hatte, sich um ein gutes Pumpensystem zu kümmern«) ankommt, hat das Potential zum Scheitern. Die überraschende Anwesenheit des Hausmeisters Ilyas, der so selbstverständlich alle Räume betritt, als wären sie sein Eigentum (oder bald sein Erbe), sowie das Eintreffen der angeblich durchreisenden Gäste Franz und Marla bringen das komplexe Beziehungsgeflecht vollends aus dem Gleichgewicht. Grenzen verschieben sich, ökonomische und emotionale Machtverhältnisse werden neu ausgelotet, Biographien und Positionen sowieso. Noch angeheizt durch äußere Zuspitzungen. Denn unweit der Gegend brennen die Wälder, verstörte Wildtiere irren durch die Wohngebiete. Je näher die Gefahr rückt, desto intensiver verschärfen sich die Konflikte der wankenden Zwangsgemeinschaft mit all ihren Lebenslügen. Noch verdichtet durch amouröse Verwerfungen.

Ein hochexplosives Setting, das – je nach Blickwinkel und kulturellen Bezügen – an den Filmklassiker Der Swimmingpool mit Alain Delon und Romy Schneider erinnert, an Juli Zehs Urlaubs- und Familiendrama Neujahr oder gar an Goethes Ehebruchsroman Die Wahlverwandtschaften. Doch Nina Bußmann geht noch einen Schritt weiter, indem sie die Identität ihrer Figuren grundsätzlich infrage stellt. Ist Ilyas wirklich der sanftmütige Osteopath, als der er sich ausgibt, »ein anständiger Melancholiker mit Bienenzucht«? Verbirgt sich hinter Franz ein im VW-Bus umherziehender Tischler im Sabbatical? Ein ehemaliger Rettungssanitäter oder eher ein reicher Konzernerbe unter falschem Namen? Was ist im Leben der kampfsportgestählten, nervenstarken Eve falsch gelaufen, dass sie sich einer fremden Familie als Babysitter und Haushaltshilfe andienen muss?

Gruppendynamik der Auflösung

Nina Bußmann, die bereits in ihrem Debütroman Große Ferien (2012) ein psychologisches Meisterstück als Innensicht des Scheiterns verfasst hat, verleiht ihrer aktuellen Geschichte zwei unterschiedliche Stimmen. Mal wird aus Elenas, mal aus Eves Perspektive erzählt, mal überlappend, mal gänzlich konträr, mal vage in der Schwebe balancierend. Gerade im Unausgesprochenen scheinen sich die Gefahren zu verbergen. Unschöne Dinge passieren und man muss nicht True-Crime-Podcasts hören, um das dräuende Unheil zu erahnen. Denn die Gruppendynamik driftet in eine gefährliche Eskalation. Wenn sich am Ende die schon dezimierte Urlaubsgesellschaft auflöst wie die zurückweichende Flut, wäre der Weg geebnet für einen Neubeginn, steht alles wieder auf Anfang. Doch welche beiden Figuren liegen wohl nebeneinander im heißen Sand und konstatieren: »Natürlich sind wir zu beneiden, es geht uns doch sehr, sehr gut hier.«

| INGEBORG JAISER

Titelangaben
Nina Bußmann: Drei Wochen im August
Berlin: Suhrkamp 2025
317 Seiten, 25 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Es frühlingt!

Nächster Artikel

Zwischen Exotik und Realismus

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Du musst nur den richtigen Knopf drücken

Roman | Junot Díaz: Und so verlierst du sie

Junot Díaz hat mit seinem Roman Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao (2012), einem erstaunlich kuriosen Debüt, überrascht. Jetzt legt er einen neuen Roman in 9 Storys ›Und so verlierst du sie‹ vor. Wieder geht es um einen jungen Latino, diesmal heißt der Ich-Erzähler Yunior, der manchmal peinlich naiv und ehrlich, dann wieder voll Selbstironie und kritischer Distanz über sein Leben plaudert. Ein erstes Geständnis verändert dabei nur scheinbar sein Leben. ›Und so verlierst du sie‹ ist absolut kein Entwicklungsroman. Oder doch? – fragt sich HUBERT HOLZMANN

Schlaflos in Venedig

Roman | Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht

Die Sehnsucht nach Stille und Rückzug, nach klösterlicher Klausur, gehört wohl zu allen Schriftstellerfantasien und begleitet Leila Slimani bis zum Kreuzungspunkt zwischen Orient und Okzident. Der Duft der Blumen bei Nacht beschwört die Kraft der Poesie und der Literatur, entführt in entschwundene Gefilde und doppelte Identitäten. Von INGEBORG JAISER

Alles den Bach runter

Roman | Kerstin Preiwuß: Nach Onkalo Er ist ein Spezialist für die Großwetterlage und scheitert an den kleinen Dingen. Er hat seine Mutter verloren und findet so etwas wie eine neue Familie. Man nennt ihn Matuschek und kennt nicht seinen Vornamen. Nach Onkalo ist vielleicht sein letztes Ziel, nur ein vermeintlicher Sehnsuchtsort. Kerstin Preiwuß inszeniert ihren zweiten Roman in einem vergessenen Landstrich der Verlierer und Abgehängten. Von INGEBORG JAISER

Nach dem Krieg ist vor dem Krieg

Roman | Andreas Pflüger: Ritchie Girl

Nach seinen drei hochgelobten Bänden um die blinde Elitepolizistin Jenny Aaron steht im Mittelpunkt von Andreas Pflügers neuem Roman Ritchie Girl erneut eine Frau. Paula Bloom – ausgebildet in Camp Ritchie in Maryland, daher der Romantitel – gehört zu den Angehörigen des Womans Army Corps (WAC), einer speziellen, 1943 gegründeten Armeeeinheit, in der Frauen, die die USA im Krieg gegen Hitlerdeutschland aktiv unterstützen wollten, ihren Platz fanden. Zumeist in der Etappe, als Schreibkräfte, in Lazaretten oder – wie in Paulas Fall – als Dolmetscherinnen eingesetzt, war ihre Stellung doch nicht unumstritten in Zeiten, in denen man den Platz von Frauen meist noch am heimischen Herd verortete. Von DIETMAR JACOBSEN

Die geheimnisvolle 36

Roman | Judith Kuckart: Kein Sturm, nur Wetter »Ich kenne die Sehnsucht nach dem kleinen Leben, aber auch nach den großen Dingen. Bei wichtigen Gefühlen, auch beim Heimatgefühl, verspürt man solche Zerrissenheit immer«, hatte die gerade 60 Jahre alt gewordene Autorin Judith Kuckart vor sechs Jahren in einem Interview erklärt und damit beinahe schon die innere Zerrissenheit ihrer namenlosen Protagonistin aus dem neuen Roman Kein Sturm, nur Wetter vorweg genommen. Von PETER MOHR