Die Tragödie eines baskischen Dorfes

Roman | Fernando Aramburu: Der Junge

In ›Der Junge‹ befasst sich der erfolgreiche Bestsellerautor Fernando Aramburu mit den Auswirkungen eines realen Ereignisses auf eine Familie. VON BETTINA GUTIERREZ

»Ich schreibe nicht über Themen, meine Romane handeln von Menschen« erklärte der baskische Schriftsteller Fernando Aramburu in einem Interview mit der spanischen Tageszeitung Diario de Navarro anlässlich des Erscheinens seines Romans Los vencejos (Die Mauersegler) im Jahr 2021. Im Mittelpunkt steht hier der Protagonist Toni, ein desillusionierter Philosophielehrer, der plötzlich den Entschluss fasst, in exakt einem Jahr aus dem Leben zu scheiden.

Um Menschen geht es vor allem auch in seinem jüngsten Roman ›Der Junge‹, dem eine reale Begebenheit zugrunde liegt: Es handelt sich um eine Gasexplosion an einer Grundschule in Ortuella, einem Dorf in der baskischen Provinz, bei der im Oktober 1980 fünfzig Kinder zwischen fünf und sechs Jahren tödlich verunglückten. Diese unfassbare Tragödie für ihre Familien, das Dorf und das Baskenland beschreibt Fernando Aramburu nun in ›Der Junge‹ auf eine besondere, empathische Art und Weise, indem er versucht dem Ganzen ein mildes menschliches Antlitz zu geben.

So schildert er vor dem Hintergrund dieses Ereignisses den Alltag einer Familie, die nach Wegen sucht, den Tod ihres Sohnes und Enkels Nuco zu verarbeiten. Während die Eltern Mariaje und José Miguel bemüht sind, ihre Trauer so gut wie möglich zu überwinden und in die Zukunft zu blicken, flüchtet sich der Großvater Nicasio in die Vergangenheit und eine lebensferne Realität. Fast jeden Morgen geht er zu Nucos Eltern, um ihn abzuholen und zur Schule zu bringen, führt ständig Gespräche am Grab mit ihm und erzählt den Leuten im Dorf, dass er gerettet wurde und noch lebt. Als äußerst liebenswert erscheint dem Leser die Flucht dieses Romanhelds vor der Wirklichkeit, mit der es ihm gelingt, sich vor der Trauer um den verlorenen Enkel zu schützen.

»Ich wollte zeigen, wie sich eine Familie eine Überlebenschance aufbaut, um den Verlust zu verkraften. Dieses Buch ist lebensbejahend« erklärte Fernando Aramburu kürzlich auf einer Veranstaltung bei der lit.COLOGNE. Recht hat er: Trotz mancher Widrigkeiten im Handlungsverlauf wie dem wiederkehrenden Schmerz und plötzlichen Ableben von José Miguel und Nicasio, zeichnet er starke Charaktere, die ihre eigene Form der Hoffnung und Zuversicht haben. Nicht zuletzt auch Mariaje, die am Ende offen auf ihr neues Leben blickt. Schnörkellos, leicht und schön erzählt, mit einer sorgfältig ausbalancierten psychologischen Tiefe und authentischem Flair kommt dieser Roman daher. Er ist voller Wärme und Zuneigung für seine Protagonisten, man liest ihn gerne ein zweites Mal.

| BETTINA GUTIERRÈZ

Titelangaben
Fernando Aramburu: Der Junge
Hamburg: Rowohlt 2025
256 Seiten, 25 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Fernando Arambutu in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zwei Welten, ein neuer Anfang?

Nächster Artikel

Urlaub mit allen Sinnen

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Showdown in Los Angeles

Roman | Ivy Pochoda: Sing mir vom Tod

Sie verbirgt ihre Aggressivität oft, indem sie scheinbar beiläufig vor sich hin singt. Aber alle inhaftierten Frauen im Gefängnis von Arizona wissen genau: Wenn Diosmary Sandoval, die sie kurz »Dios« nennen, ihre Narcocorridos – Songs, in denen die Taten bekannter mexikanischer Drogengangster verherrlicht werden – anstimmt, liegt Gewalt in der Luft. Die kann Gründe haben, muss sie aber nicht. Und Dios gibt erst Ruhe, wenn der Schaden, den ihre unbeherrschbare Wut angerichtet hat, ihr groß genug erscheint. Dass es Menschen gibt, die ihre Neigung zur Gewalt komplett im Griff haben, will ihr hingegen nicht in den Kopf. Und deshalb ist ihr Florence Baum, die man aufgrund ihrer Haarfarbe »Florida« getauft hat, von Beginn ihrer Bekanntschaft an suspekt. Darum hängt sie sich, als die Gefängnisse während der Corona-Pandemie Gefangene vorzeitig entlassen, um die Ansteckungen unter den Inhaftierten gering zu halten, an die Tochter aus gutem Hause, bis es in Los Angeles zum blutigen Showdown kommt. Von DIETMAR JACOBSEN

Dave Robicheaux unter Mordverdacht

Roman | James Lee Burke: Mein Name ist Robicheaux

Jedes Jahr bringt der Bielefelder Pendragon Verlag drei bis vier Titel aus der Dave-Robicheaux-Reihe des US-amerikanischen Autors James Lee Burke (Jahrgang 1936) heraus. Die meisten davon sind Neuausgaben oder überarbeitete Übersetzungen von bereits in den 1990ern bei Ullstein bzw. im Münchener Goldmann Verlag erschienenen Büchern. Mit Mein Name ist Robicheaux ist nun aber auch wieder eine deutsche Erstausgabe – in der Übersetzung von Jürgen Bürger – dabei. Es ist der 21. von bisher vorliegenden 22 Robicheaux-Thrillern. Und er hat erneut alles, was Leser weltweit an den Romanen von James Lee Burke schätzen: einen spannenden Plot, meisterhaft ausgelotete Charaktere und großartige Naturbeschreibungen. Von DIETMAR JACOBSEN

Zerstörerisches Doppelleben

Roman | Javier Marías: Berta Isla Welch ein Romaneinstieg! »Es gab eine Zeit, da war sie sich nicht sicher, ob ihr Mann ihr Mann war.« Damit sind Zweifel und Misstrauen gesät, die wie in einer Endlosschleife als permanente Hintergrundmusik die mehr als 600 Seiten umfassende Handlung des neuen Romans des großen spanischen Autors Javier Marías begleiten. PETER MOHR über einen Roman, der Schein und Wirklichkeiten auslotet.

Der Weimarer Geheimrat auf Mördersuche

Roman | Johannes Wilkes: Kommissar Goethe: Schillers Schädel

Friedrich Schiller ermordet? Freund Goethe kann es nicht glauben. Doch als er den aus dem Kassengewölbe des Weimarer Jakobskirchhofes geborgenen Schädel seines kongenialen Partners und Mitklassikers in Händen hält und einen winzigen Einstich an der höchsten Stelle des Schädels, »dort, wo die Knochennähte Schläfen- und Stirnbeine fixierten«, entdeckt, bleibt eigentlich keine andere Erklärung übrig, als dass Friedrich Schillers Tod am 9. Mai 1805 kein natürlicher gewesen sein konnte. Fortan treibt es den alten Freund um. Von Weimar nach Jena und zurück. Von Hofarzt Huschke zu Schillers ehemaligem Diener Georg Rudolph. Von Caroline, der noch lebenden Schwägerin des Freundes zu Johanna Schopenhauer. Und immer wieder zu seiner Schwiegertochter Ottilie und ihren beiden kleinen Söhnen, die er mehr schätzt als Sohn August. Goethe, der Nationaldichter, ist zum Kriminalisten geworden. Und Johannes Wilkes (Jahrgang 1961), Autor zahlreicher Reiseführer, Sachbücher und Kriminalromane, begleitet ihn mit viel Witz und einem munteren Mix aus Vergangenheit und Gegenwart auf seiner Suche nach Schillers Mörder. Von DIETMAR JACOBSEN

111 fremde Betten

Prosa | David Wagner: Ein Zimmer im Hotel Dies ist kein Roman, keine Erzählung, keine Kurzgeschichtensammlung – und doch ein höchst vergnügliches Stück Prosa. Wer glaubt, dass die Beschreibung von Bettbreiten, Zimmergrößen und Frühstücksbüffets in die Welt von Hotelbewertungsportalen gehört, erfährt hier neue Dimensionen. David Wagner zeigt sich mit Ein Zimmer im Hotel erneut als verborgener Meister der Alltagsbeobachtung und des Gedankenspaziergangs. Von INGEBORG JAISER