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TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Suchen

Wie alt könne jemand werden, fragte Farb.

So ein Leben dauere seine Zeit, sagte Wette.

Ein Leben nutze sich ab, oder, fragte Annika, früher oder später, deswegen die Krankheiten, das gäbe allerhand Stoff, Romane zu schreiben.

Farb tat sich ein Stück von der Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Wette warf einen Blick nach dem Gohliser Schlößchen.

Ein Leben schöpfe auch Kraft, widersprach Farb, so einfach sei das, sagte er, wer von Erfolg verwöhnt werde, sei gestärkt.

Annika lächelte. Was das sei, Erfolg, fragte sie, und ob man das in Zahlen messe oder an den Siegen, die man eingefahren habe, oder an der Größe der Pokale, und gewiß, versicherte sie, ein Leben schöpfe auch Kraft.

Das dauere seine Zeit, wiederholte Wette.

In China, sagte Tilman, werde ein erfolgreiches Leben an der Anzahl der Jahre gemessen.

Ob das so einfach sei, fragte Annika, und ob man bei einem Leben überhaupt von Erfolg reden könne, sagte sie, doch Tilman werde das wissen, sagte sie, sei er nicht kürzlich in Beijing gewesen, fragte sie, und sei auf der Großen Mauer einen Halbmarathon gelaufen, und warf einen sehnsüchtigen Blick auf den schlanken rostroten Drachen, der das Teeservice zierte, Tilman hatte es als ein Geschenk von dort mitgebracht.

Farb strich die Schlagsahne auf seiner Pflaumenschnitte langsam und sorgfältig glatt.

Wette griff zu einem Marmorkeks, er hatte gar nicht gedacht, daß es sie wieder zu kaufen gab.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

Tilman schwieg.

Ob sie mit ihrem Roman vorankomme, fragte Wette.

Annika arbeite an einem Roman, fragte Farb, interessant, sagte er, davon habe er nicht gewußt.

Man müsse vorsichtig sein, gab Wette zu bedenken, Roman sei ein Erzeugnis der Moderne.

Nicht alles müsse gleich schlecht sein, entgegnete Farb, nur weil es der Moderne angehöre, der Roman könne ja auf Mängel hinweisen, auf Symptome der Krankheit, das sich ausbreitende Maschinenwesen, doch das sei nach seiner Kenntnis der geringere Teil, ein Roman solle unterhaltsam sein, ein angenehmer Zeitvertreib, in dem sich das eigene Leben wiederfinde.

Man könne sich unterrichten lassen, einen Roman zu schreiben, coachen, sagte Wette, ob sie daran gedacht habe, an Universitäten würden Seminare angeboten, sie fänden großen Zulauf.

Der Büchermarkt sei überaus lebendig, sagte Farb, es werde gelesen wie verrückt, man sollte meinen, die Leute würden allmählich klug, allein bei Kriminalromanen gebe es zahllose Neuerscheinungen, vierhundert Seiten seien Standard.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

Wette griff zu einem zweiten Marmorkeks.

Tilman schenkte Tee nach. Nein, Kriminalromane interessierten ihn nicht, von vierhundert Seiten könne man viele Seiten überblättern, ohne daß Verständnis verlorenginge, das Personal werde sowieso unübersichtlich, das aufklärende Palaver wolle keine Ende nehmen, an Dramatik werde immer noch einmal draufgelegt, nach spätestens hundertfünfzig Seiten sei ein zweiter Mord fällig, auch ein dritter, das Geschehen werde vorhersagbar, nein, dieses Strickmuster sei durchschaubar und langweile ihn, doch er wolle keineswegs abstreiten, daß es Ausnahmen gebe, man müsse sie halt suchen.

Wette lachte, überall, spottete er, müsse man heutzutage suchen, der Markt werde mit minderwertigem Material überschwemmt.

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Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

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Er nahm einen Löffel Schlagsahne und strich sie sorgfältig auf seiner Pflaumenschnitte glatt.

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TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wette

Wette, sagte Annika, sie habe mit Wette gesprochen, er sei daran interessiert, Doppelkopf zu spielen, was nicht als Absage zu verstehen sei, aber sie möge gern auch Hüttmann fragen.

Schön, sagte Farb und tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne, die Farb auf der Pflaumenschnitte langsam und sorgfältig glattstrich.

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