//

Ramses IX.

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ramses IX.

Ramses lächelte. Wie abenteuerlich, sich in fremden Gegenden und Kulturen herumzutreiben und einen Eindruck von den Menschen zu gewinnen, durchaus interessant, gewiß, die Kultur der Industriegesellschaft ist hochentwickelt, außerordentlich leistungsbezogen, auch wenn sie seit lediglich zwei Jahrhunderten besteht. Unmengen von Menschen bevölkern den Planeten, das würde ihm niemand glauben, und für sie muß gesorgt werden, da nimmt die Verteilung auch urwüchsige Züge an, der zivilisatorische Standard droht zu kippen, das wird man verstehen.

Und ihr Leben, ist es nicht bei allem Getöse blaß, blutarm, leidenschaftslos, du siehst sie vor Flachbildschirmen oder vor der Kinoleinwand, in Bars, auf Parties, eine breit angelegte Infantilisierung ist ingang gesetzt, frühes Symptom der Pandemie, viel Geschrei, laute Musik, getoppt noch durch den allerletzten Hype, die Digitalisierung, eine revolutionäre Technologie, ein buntschillerndes Abenteuer, gewiß, immer unterwegs, immer geschwätzig, ein Einlaßportal, und was als Spaßgesellschaft die Türe einen Spalt nur öffnete, überspült als eine reißende Flut die übrigen Bereiche.

Kein Zweifel, er ist sich sicher, doch was soll er davon halten, und wohin soll das führen, da ist plötzlich von einer künstlichen Intelligenz die Rede – hat das Vertrauen auf die eigene Intelligenz ausgedient, unmöglich, wer kommt auf solche Gedanken, das ist ein bedrohliches Zeichen, ein schriller Alarm, eine Zivilisation löst sich auf.

Er könne falsch liegen, gewiß, er würde sich das sogar wünschen, und auch in seiner heimischen Welt ist bekanntlich nicht alles Gold, was lockend glänzt, man muß behutsam sein mit seinem Urteil, keine Frage.

Ramses warf einen Blick auf die Lagune und bewunderte die Eleganz des Grauwals, der beim Abtauchen seine Fluke vorführte, als ob es um einen Preis für Schönheit ginge. Doch damit, ermahnte sich Ramses, stolpere er selbst bereits mitten in jene verwerfliche Konkurrenz- und Siegermentalität, in die morbiden Denkschablonen der Industriegesellschaft.

Habe sich etwa der Mensch signifikant verändert? Auch im Alten Ägypten seien Wettstreit, Vorteilsnahme, Nepotismus, Korruption gang und gäbe gewesen, niemand werde das abstreiten. Ramses faßte sich an den Kopf. Je mehr er sich in diese fremde Zivilisation der Moderne vertiefte, desto unübersichtlicher wurden die Details, nur eben war seine heimische Kultur nicht dermaßen infantil ausgerichtet, sie war reif, sie hatte Bestand über drei Jahrtausende.

Abstoßend war auch der Umgang mit den Ressourcen des Planeten, die Menschen gebärden sich wie eine marodierende Räuberhorde. Der Planet ist niemandes Eigentum und will pfleglich behandelt werden. Er ist ein gastfreundliches Angebot, ein reich gedeckter Tisch, ein Geschenk der Götter, und jede Zivilisation ist verpflichtet, rücksichtsvoll aufzutreten, der Mensch hat sich in die natürliche Ordnung zu integrieren.

Wohin auch immer sein Blick fiel, dieser Planet wurde gnadenlos ausgepreßt wie eine Zitrone. Während sich die Landwirtschaft des Alten Ägypten an den Überflutungen des Nil orientierte und die Aussaat und Ernten anpaßte, wurden der Aussaat in dieser industriellen Zivilisation mit Düngemitteln Hochleistungen abgerungen und die Böden dauerhaft ruiniert.

Die Beispiele waren ohne Ende, sie waren peinlich, sie schreckten ab, die Methoden der Viehzucht waren keinen Deut anders, Rinder und Schweine, anstatt daß sie frei lebten, wurden zu Objekten der fleischverarbeitenden Industrie, Kühe wurden als Milchlieferanten gezüchtet, ein Elend, Ramses war entsetzt über die  Zustände in einer Gesellschaft, die sich als ›modern‹ etikettierte, am besten, man schlösse die Augen – denn hinzu komme, daß dieses Elend bekannt sei, jedoch greife niemand ein, um dem abzuhelfen, nein, es sei gut, sagte sich Ramses, daß er sich einen Eindruck verschaffe, aber unter diesen Zuständen zu leben, das komme für ihn nicht infrage.

Seit neuestem aber schien der bedrängte Planet zu reagieren, als wäre er mit seiner Geduld am Ende, ein Tropfen bringt das Faß zum Überlaufen, die Verschmutzung des Planeten hatte Konsequenzen, Orkane und Feuersbrünste tobten sich aus, als hätte sie jemand von den Zügeln gelassen.

Nein, Ramses hatte genug, dieser Planet wurde unbewohnbar, und nichts würde ihn bewegen, sich dem nur einen einzigen Tag länger auszuliefern, das Dasein wurde lebensgefährlich.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Gegen den trüben Herbst

Nächster Artikel

Warum die Dinge nie zu Ende sind

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Kurzgeschichten für Kurzstrecken

Kurzprosa | Klaus Wagenbach (Hrsg.): Störung im Betriebsablauf. 77 kurze Geschichten für den öffentlichen Nahverkehr Störung im Betriebsablauf: 77 kurze Geschichten für den öffentlichen Nahverkehr – dieses Buch hat die praktischen Maße eines Smartphones und passt in jede Hosen-, Hemd- und erst recht Handtasche. Als kleiner Literaturhappen für Nahverkehr, Überlandfahrten und Wartezeiten am Bahnsteig. Selbst eine Störung im Betriebsablauf wird dank Klaus Wagenbach noch zum Leseerlebnis. Von INGEBORG JAISER

Mosaikstein der Kulturgeschichte

Kurzprosa | Arno Schmidt: Der Briefwechsel mit Max Bense

Arno Schmidt war kein einfacher Zeitgenosse, aber einer der avanciertesten und kritischsten Autoren seiner Zeit. Mit vielen Autoren und Intellektuellen war er befreundet, mit einigen arbeitete er zusammen. Die Arno-Schmidt-Stiftung publiziert in schöner Regelmäßigkeit die wunderbar edierten und kommentierten Briefwechsel, etwa mit Alfred Andersch oder Eberhard Schlotter. Als sechster Band ist jetzt der Briefwechsel mit dem Philosophen Max Bense erschienen, in dem sich Schmidts einmal für die »vielen unleserlichen Postkarten« bedanken. GEORG PATZER hat den Briefwechsel gelesen.

Eldin

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Eldin

Eldin eine Ikone der Moderne, fragte der Ausguck – wie solle das gehen? Er sei ein guter Erster, bei allem, was recht sei, doch sieh ihn dir an: ein Lulatsch, ausgezehrt, man möchte ihm nicht im Dunkel begegnen, ein Hungerhaken.
Du bist grob, Ausguck. Seine Stimme flößt jedermann Respekt ein, und auf Scammons ›Boston‹ wird ihm niemand am Zeug flicken, er funktioniert wie geschmiert.
War er immer so?
Er war immer so. Du wirst damit geboren, Ausguck, ein solcher Charakter fügt sich in die Abläufe des Maschinenwesens, verstehst du.

Wunderkinder

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Wunderkinder

Eldins Schulter?

Kein Ende in Sichtweite.

Kann folglich noch dauern. Scammon?

Hockt achtern in seiner Kajüte über seinen Aufzeichnungen.

Läßt sich nicht blicken?

Läßt sich nicht blicken.

Der Ausguck nickte und ging in den Handstand. Thimbleman ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er applaudierte.

Einwohnen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Einwohnen

Kirchen, Kathedralen, Dome seien zu Hotspots des Tourismus geworden, sagte Tilman, kein Aufenthalt in Paris ohne Notre Dame, kein Rom-Aufenthalt ohne den Petersdom, absolviert in einer Reisegruppe nebst sachkundiger Führung.

Farb kam aus der Küche und schenkte Tee nach, Yin Zhen, die ersten Märztage brachen an, die Temperaturen waren leicht winterlich, doch die Sonne schien, in einem warmen Pullover hätten sie sich beinahe schon auf die Terrasse setzen können.

Anne nahm einen Keks.

Tilman rückte näher an den Couchtisch.