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Lagerkoller

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lagerkoller

Du glaubst es, oder du glaubst es nicht, sagte Tilman, ein mehrwöchiger Aufenthalt am Salzmeer, sagte er, sei strapaziös, die Temperaturen kletterten im Juni und Juli auf fünfzig Grad, niemand hielte das lange aus, und dennoch, man buche das Salzmeer der Gesundheit wegen, vor allem die erkrankte Haut erhole sich, die Hauptsaison beginne im Herbst und wieder im Frühjahr.

Über Weihnachten?

Ab November stehe die Sonne niedrig über den Hängen und komme selten hinter den Wolken hervor, die Luft sei diesig. Der Schachspieler habe vor Weihnachten einige Wochen im Tsell Harim gebucht, er sei einer der wenigen Gäste gewesen und habe die Stille genossen, sagt er, doch anstrengend sei es gewesen, ohne Frage, täglich im Lager am Salzmeer, er habe jeden Morgen mit den Spatzen Gespräche geführt, das Salzmeer sei ihr Winterquartier, und ihnen vom Frühstück ein Brötchen mitgebracht, sie hätten schon auf ihn gewartet.

Annika lachte. Ein hartgesottener Geselle, dein Schachspieler.

Nerven wie Drahtseile, sagte Tilman und griff zu einem Keks, auf dem umgrenzten Gelände ab neun Uhr bis in den frühen Nachmittag, und keine Gelegenheit für eine Partie außer gegen den Computer – das Gefühl, allein zu sein, die Monotonie der Abläufe sei bedrängend, doch ein Lagerkoller, nein, da habe er nur lachen können, das habe ihn nicht tangiert, sagt er. Im Tsell Harim, sagt er, sei er auf Belten getroffen, den er vom vergangenen Jahr her kannte, man laufe einander unweigerlich über den Weg am Salzmeer, und der für den März einen Flug nach Thailand gebucht hatte.

Das Salzmeer rücke in unerreichbare Ferne, sagte Annika, die das Thema nicht sonderlich ernst nahm, und trank einen Schluck Tee.

Mancher Psoriatiker halte sich zweimal im Jahr am Salzmeer auf, Herbst und Frühjahr, sagte Tilman. Die Dänen dürften sich zwischen dem Salzmeer und einem Krankenhausaufenthalt zu Hause entscheiden, das Salzmeer komme die dänischen Kassen günstiger, sie würden sogar eine Schwester mitschicken, kompromißlos, sie pendle zwischen En Gedi und En Bokek, und wer sich wiederholt nicht an die Regeln halte –  Eintreffen im Lager bis spätestens halb zehn, null Alkoholkonsum, die Sitten seien streng –, der müsse auf eigene Kosten heimfliegen.

Malte sei da anders, erklärte Tilman, Malte sei ein Gegenbeispiel, er sei ein naives Gemüt, sei umtriebig, geschwätzig, tue sich wichtig, erinnere an den Suizid im Moriah Plaza, über den sogar in der Deutschland-Ausgabe der BILD mit sieben Zeilen informiert worden sei, ein Aufreger für Malte, der sich stets bestens informiert zeige, er hatte einen Freund im Moriah Plaza und hatte, längst bevor es in der Zeitung zu lesen war, von einem Suizid geredet, einem Sprung aus dem sechsten Stock, anfangs habe ihm das im Lager niemand abgenommen, dem er davon erzählte, er wolle sich, hieß es, wichtigtun, es sei die dritte Woche in dessen Aufenthalt gewesen, sagte Tilman, der Aufenthalt im Lager sei nicht ungefährlich, das Salzmeer treibe die Menschen in einen Lagerkoller, manche hielten sich bis zu sechs Wochen dort auf.

Wie aufregend, spottete Annika, sie langweile sich, sagte sie ernüchternd und stellte ihre Tasse mit dem Drachenmotiv auf den Tisch ab. Ob sie nicht eine vierte Person einladen sollten, überlegte sie, wieder den Wette, denn wenn sie zu viert wären, könnten sie Doppelkopf spielen.

Tilman warf einen Blick zum Gohliser Schlößchen.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Sich am Salzmeer aufzuhalten, das sei nicht jedermanns Sache, entgegnete Annika und griff zu einem Stück Marmorkuchen, was er erzähle, sagte sie, wirke verstörend, und sein Malte, sagte sie, sei eine schillernde Figur.

Farb aß von seiner Pflaumenschnitte.

Schräg, sagte Tilman und lachte. Der Schachspieler, sagte er, spiele auch Backgammon, schon die Griechen vor Troja hätten es gespielt, im Grab von Tut-ench-Amun, heißt es, sei ein Spielbrett entdeckt worden, der römische Kaiser Claudius habe ein Buch über Backgammon verfaßt, also was Wunder, daß es am Salzmeer gespielt werde, man treffe dort, sage der Schachspieler, auf Leute aus aller Herren Länder.

Doch in dem November, von dem er erzähle, dürfte sein Schachspieler keinen Partner gefunden haben.

Während der Saison, sagte Tilman, stünden sie dort um ein schäbiges rundes Tischchen im Lager, sechs, sieben Leute, gespanntes Publikum, und Malte  würde mit Sergej aus Murmansk um hohe Beträge spielen, du sähest sie nach dem Spiel Geldscheine tauschen, ja, Sergej aus Murmansk, jener Stadt im hohen Norden, in deren Hafen Atom-U-Boote stationiert seien, der Planet sei ein gefährlicher Aufenthaltsort.

Dann werde euer Sergej vermutlich eine höchst zwielichtige Figur sein, sagte Annika und gähnte.

Gut möglich, sagte Tilman.

| WOLF SENFF

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Er hat sich sehr aufgeregt, sagte Farb, du hättest ihn erleben sollen.

Tilman nickte.

Annika schlug ihre Reisezeitschrift zu und legte sie beiseite.

Cheyne Beach liegt an der südwestlichen Ecke Australiens, nicht weit von Albany, sagte Tilman, fünfundsechzig Kilometer westlich, und wurde zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts Stützpunkt der Walfänger, dort vor der Küste wurde immer schon dem Wal nachgesetzt, anderthalb Jahrhunderte lang war es eine einträgliche Industrie, und Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde dort eine Station zur Verwertung der Walkadaver eingerichtet, die Cheyne Beach Whaling Company, die allerdings nicht besonders ertragreich war.

Annika lächelte. Das, sagte sie, war schon die Folge der ersten Jahre der weltweiten Proteste gegen den Walfang.

Die Proteste waren höchst wirksam, sagte Tilman, der Einsatz war allerdings lebensgefährlich, den Walfangbooten wurde mit wendigen Schlauchbooten in die Parade gefahren, so daß eine geordnete Jagd kaum möglich war, die Fangquoten gingen zurück, und im November 1978, alles gut, wurde die Walstation aufgelöst.

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