//

Ferne

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Ferne

Der Ausguck schälte sich aus der Dunkelheit.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer, die Flamme schlug hoch.

Seit wann reden wir denn über Krankheiten, fragte Crockeye irritiert, wir haben Verletzungen davongetragen, aber niemand sei krank.

Ein Walfänger, bekräftigte Pirelli, kenne keine Krankheit.

Es sei denn, der Koch tische eintönige Kost auf, unkte der Zwilling und warf einen Blick auf Gramner, die Stimmung schien gereizt, es ging auf Mitternacht zu.

Wir reden über ferne Zeiten, sagte Gramner.

Zukünftige Zeiten, sagte der Ausguck.

Über Krankheiten der Moderne, präzisierte Thimbleman.

Die zu unserer Zeit noch gar nicht aufträten, sagte Pirelli, wir seien Mitte  neunzehntes Jahrhundert.

Wer könne das wissen, wandte LaBelle ein.

Wir reden über eine Zukunft, in der niemand leben möchte, konstatierte Thimbleman.

Ob sie eine Wahl hätten, fragte LaBelle.

Nicht doch, wandte der Zwilling ein, die Moderne zeige nie dagewesene Erfolge.

Es handle sich um eine Zivilisation der Höchstleistungen, pflichtete ihm der Rotschopf bei, in allen Bereichen werde die Auslese der Besten straff organisiert, sei das denn nicht vorbildlich, nimm nur den Sport, zum Beispiel den Fußball, werde da nicht alles getan, damit die Besten in die führenden Mannschaften kämen, Messi, CR7, märchenhafte Summen würden investiert.

Wir reden über eine Zukunft, in der niemand leben möchte, wiederholte Thimbleman.

LaBelle schwieg.

Die Menschheit drehe sich im Kreis, sagte der Ausguck, der Fortschritt sei eine Spirale, deren Geschwindigkeit derart zunehme, daß man den Verstand verlieren möchte, habe nicht Pirelli vor kurzem an die Parabel von der Maus und der Katze erinnert, aufgeschrieben von dem Versicherungsangestellten aus Prag, auch so eine ausweglose Geschichte, das Innehalten sei ausgeschlossen, ein Entrinnen nicht möglich.

Crockeye lachte. Ob das nicht sogar ein buddhistisches Konzept sei, spottete er, maximaler Bewegungseffekt bei null realer Veränderung, im Auge des Orkans sozusagen.

Eine Kontroverse in der Mannschaft, Pirelli staunte, und was denn erfreulich sein solle, widersprach er, an dem Hype um Leistung, was für ein Affentheater, der Mensch irre umher, orientierungslos, und fordere sich höchste Leistung ab.

Das könne es nicht sein, sagte LaBelle entrüstet.

Touste schlug Akkorde auf seiner Gitarre an und summte eine Melodie, er schlägt immer Akkorde an, wenn es laut wird.

Der Mensch führe ein Buch der Rekorde und verzeichne unter anderem, wer die längste Zeit auf einem Bein habe stehen können, glaubt es mir, versicherte Pirelli, es sei wahr, solche Wettbewerbe würden veranstaltet.

Störche, höhnte der Ausguck.

Höchstleistung darin, die Welt zu bespaßen, sagte Crockeye, doch was solle daran lustig sein.

Orientierungslos, wiederholte Pirelli.

Aber lauthals mit Getöse, sagte Thimbleman.

Die Walfänger hatten ihr Thema, der Abend war still, das Meer rauschte von ferne.

Sie trügen Rennen aus, sie wetteten auf Pferde, sie verliehen Preise, sie schnupften Drogen, sie tränken sich ins Koma, sie pflegten eine feingeistige Kultur, sie züchteten Milchkühe und diverse Hunderassen, sie häuften Reichtümer an, sagte Mahorner.

So meinten sie das Leben zu genießen, spottete LaBelle.

Die Anfänge erlebe man in der Stadt, sagte Pirelli.

Jedem das Seine, sagte der Rotschopf.

Ob er sie etwa verteidigen wolle, fragte der Ausguck.

Der Mensch renne Luftschlössern nach, sagte Thimbleman.

Der Ausguck stand auf, nahm einige Schritte Anlauf, löste sich in der Dunkelheit auf, sie hörten ihn einen Salto schlagen.

Was der Ausguck bloß an diesen Sprüngen finde, überlegte Crockeye gereizt.

Eldin legte einen Scheit Holz ins Feuer.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Bild-Geschichten aus der Natur

Nächster Artikel

Viele Vielleichts

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Der moderne Mensch

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Der moderne Mensch

Sie wissen null, sagte Gramner, und lügen sich in die Tasche.

Wovon rede er, fragte Harmat.

Interessant, sagte LaBelle, beugte sich über die Reling und blickte hinaus auf die Lagune und die Einöde, die sie umgab und sich bis zum Horizont erstreckte, ein trostloser Ort.

Von der Moderne und ihren Wissenschaftlern, antwortete Pirelli.

Liebesgeschichte und Tragödie

Kurzprosa | Christine Wunnicke: Nagasaki, ca. 1642

Liebesgeschichte und Tragödie auf Deshima. Im 17. Jahrhundert waren die Holländer die einzigen westlichen Ausländer, mit denen die Japaner Handel trieben. Sie mussten auf einer kleinen Halbinsel vor Nagasaki wohnen, streng kontrolliert. Aber manchmal kam es doch zu kuklturverwirrenden Begegnungen. Christine Wunnicke, eine grandiose Erzählerin von Geschichten aus dem Fernen Osten, erzählt von einer Rache, die sich viel Zeit gelassen hat. Von GEORG PATZER

Auflösung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auflösung

Ganz ähnlich seien seine Ländereien am Roten Meer beschaffen, sagte Ramses IX., im Grunde handle es sich um unfruchtbare Einöde, nein, Tourismus habe es zu seiner Zeit nicht gegeben, das Leben existiere nicht, damit der Mensch sich vergnügen könne.

Er verstummte und blickte hinaus auf das Wasser.

Der Anwalt der Schwachen

Kurzprosa | Erich Hackl: Dieses Buch gehört meiner Mutter | Drei tränenlose Geschichten Es gibt zwei neue Bücher des Schriftstellers Erich Hackl: ›Dieses Buch gehört meiner Mutter‹ und ›Drei tränenlose Geschichten‹ sind beide im Schweizer Diogenes Verlag veröffentlicht. Von PETER MOHR

Leben und Mythos

Kurzprosa | Kenzaburô Ôe: Licht scheint auf mein Dach »Ich muss zugeben, dass wir manchmal, besonders ich, die Wut über unseren behinderten Sohn nicht unterdrücken konnten«, heißt es im schonungslos offenen, autobiografischen Band ›Das Licht scheint auf mein Dach‹ (2014) aus der Feder des Literatur-Nobelpreisträgers Kenzaburô Ôe. Er beschreibt darin, wie die Geburt seines Sohnes Hikari sein Leben veränderte, wie er gemeinsam mit seiner Frau vor der schwierigen Frage stand, einer komplizierten Kopfoperation zuzustimmen. Heute ist Hikari Oe über 50 Jahre alt und in Japan ein angesehener Komponist klassischer Musik. Zum 80. Geburtstag des Literatur-Nobelpreisträgers Kenzaburô Ôe am 31. Januar