//

Auf Irrwegen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auf Irrwegen

Wer finde sich noch zurecht, klagte Wette.

Es sei einfach zu viel, sagte Annika.

Ob man reduzieren müsse, fragte Farb.

Wo anfangen, fragte Annika.

Wette lachte. Bei sich selbst, sagte er, jeder bei sich selbst, das wäre doch möglich, man könnte Tempo reduzieren, eine Pause einlegen, die Intensität verringern.

Die Leute wollen aber intensiv leben, sagte Farb, während er sich eine Pflaumenschnitte auftat, sie wollen das Leben auskosten, bis zur bitteren Neige auskosten.

Tilman reichte ihm einen Löffel Schlagsahne.

Wette warf einen Blick auf das Gohliser Schlößchen.

Wir verstehen uns als eine Leistungsgesellschaft, sagte er, eine Hochleistungsgesellschaft, da müsse man bereit sein, bis an die Grenzen zu gehen.

Sprüche, sagte Farb.

Etwa nicht, entgegnete Wette, der Sport liefere das überzeugende Beispiel.

Fußball, sagte Farb und spottete: Aber ja doch, Hochleistung in jeglicher Hinsicht, in den Teams der Champions`League würden Fünfzehn- und Sechzehnjährige eingesetzt, für den Einsatz jeweils hochgezüchtet in vereinseigenen Fußball-Internaten, die Auslese der Talente lasse keine Lücken, das sogenannte Scouting greife die Talente international ab, Asien und Afrika unter der Lupe, der Marktwert eines Fußballers messe sich an dessen Leistungen, man könne das im Internet eruieren, das sei alles kein Geheimnis, der Handel mit Fußballspielern sei professionell organisiert, er habe an Tempo mittlerweile erheblich zugelegt, Spieler aus aller Herren Länder, Stars der vergangenen Saison hätten gewechselt, und es sei gut möglich, daß du zu Saisonbeginn deine Mannschaft nicht wiedererkennst, die Dinge wandeln sich von Tag zu Tag.

Wette griff zu einem Marmorkeks, er hatte gar nicht gedacht, daß Marmorkekse wieder angeboten würden.

Man könne sich ohne Ende mit diesem Sport beschäftigen, sagte Farb, Fußball sei ein getreuer Spiegel der Gesellschaft.

Wette lachte: Topverdiener, spottete er, in den Spitzen ein empörender Reichtum und von überall her ein ungeheurer, verzweifelter Andrang nach diesen Positionen, kraß geöffnet die allseits verrufene Schere zwischen Armut und Reichtum, folglich findest du in den europäischen Spitzenmannschaften Spieler aus allen Gegenden der Welt und, kein Wunder, eine strikte Tabuisierung von rassistischen Tendenzen, unsere Millionäre, spottete er, als Vorkämpfer menschenwürdiger Verhältnisse.

Niemand, sagte Farb, unternehme etwas gegen diese skandalöse Häufung von Reichtum, und mehr noch, die Millionäre würden ohne Ende gefeiert, ihre Tore umjubelt, wer solle das noch verstehen.

Wette lachte, die Verhältnisse seien unübersichtlich.

Es sei von allem zu viel.

Ein Rausch, sagte Wette, ein Publikum im Vollrausch, besinnungslos.

Von allem zu viel, wiederholte Farb, aber das werde dennoch als unterhaltsam sortiert, wie anders reden wir über die Kriege, auch dort tobe sich der Rausch aus, in der Ukraine wie in Gaza, ein Rausch der Vernichtung, glühender Haß, automatisierte Feldzüge mithilfe von Drohnen, ein Rausch der neuesten Technologien, grenzenlos, ohne Ende.

Sie wüßten nicht, was sie tun, sagte Tilman, nein, sie wollen es nicht wissen, es sei ja alles bekannt, aber sie seien im Rausch, und zwar werde vor einem folgenschweren Kater gewarnt, aber sie wollen keine Ernüchterung, sie weigern sich, sie liefern sich dem Rausch aus, immer wieder, was könne man tun, immer wieder verfallen sie den Lockungen der Versuchung, was könne man tun, keine Frage, das sei offensichtlich, es gehe um einen Rückbau, ein Abbremsen nicht allein der Geschwindigkeit, sondern generell um eine Absage an Wachstum und Fortschritt, an eine immer wieder innovative Technologie.

Farb tat sich eine Pflaumenschnitte auf.

Wette griff zu einem Marmorkeks.

Annika blätterte in ihrem Reisemagazin.

| WOLF SENFF

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Zwischen Ruhm, Isolation und Verrücktsein

Nächster Artikel

Wettermacherinnen

Weitere Artikel der Kategorie »Kurzprosa«

Lücken

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Lücken

Die Situation sei verfahren, sagte Farb, zuallererst müsse man den trügerisch strahlenden Lack auflösen und einen Zugang zur Wirklichkeit schaffen.

Er warf einen Blick hinüber zum Gohliser Schlößchen.

Das Maschinenwesen habe sich die Deutungshoheit angeeignet, dessen erdrückende Version der Wirklichkeit komme für den Menschen einer Gehirnwäsche gleich, und es werde ein lange anhaltender, schmerzhafter Prozeß sein, sagte Farb, ein verzweifelter Kampf, diese falschen Bilder zu brechen und die echte Version freizulegen, die Version des Menschen.

Sut lehnte sich zurück und lächelte.

Einwohnen

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Einwohnen

Kirchen, Kathedralen, Dome seien zu Hotspots des Tourismus geworden, sagte Tilman, kein Aufenthalt in Paris ohne Notre Dame, kein Rom-Aufenthalt ohne den Petersdom, absolviert in einer Reisegruppe nebst sachkundiger Führung.

Farb kam aus der Küche und schenkte Tee nach, Yin Zhen, die ersten Oktobertage brachen an, die Temperaturen waren leicht winterlich, doch die Sonne schien, in einem warmen Pullover hätten sie sich beinahe schon auf die Terrasse setzen können.

Anne nahm einen Keks.

Tilman rückte näher an den Couchtisch.

Erzähler und Zuhörer

Kurzprosa | Uwe Timm: Montaignes Turm »Ich bin überzeugt, dass wir in unserer Seele einen besonderen Teil haben, der einem anderen vorbehalten ist. Dort sehen wir die Idee unserer anderen Hälfte, wir suchen nach dem Vollkommenen im anderen«, erklärte der männliche Protagonist Eschenbach in Uwe Timms letztem Roman Vogelweide (2013). Mit diesem äußerst anspielungsreichen Buch hatte Timm nicht nur einmal mehr seine immense Vielseitigkeit unter Beweis gestellt, sondern den Gipfel seines bisherigen künstlerischen Schaffens erklommen. Jetzt ist sein Essayband Montaignes Turm zu seinem 75. Geburtstag am 30. März erschienen. Von PETER MOHR

Nahstoll

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Nahstoll

Er habe ihn im Zentrum gesehen, sagte Setzweyn, von woher kommt jetzt Setzweyn, man stelle sich das vor: Setzweyn am Salzmeer, hunderttausend Höllenhunde, er wird ein erbärmliches Durcheinander anzetteln, Hagel und Granaten, und ja, ergänzte Setzweyn, doch, Farb habe sich einige Tage auf der Dachterrasse aufgehalten, die Aufregung um den Suizid im ›Moriah Gardens‹ habe ihm sehr zugesetzt, er sei die dritte Woche am Salzmeer, da hinterlasse die Hitze deutliche Spuren, niemand bleibe verschont, man werde dünnhäutig und stecke so etwas nicht locker weg.

Er werde trinken, vermutete Maurice.

Vertreibung

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Vertreibung

Farb war nicht von dieser Welt, nein, die Welt glitt an ihm vorüber, Tag für Tag, ihr hohes Tempo ließ ihn kalt, ihr verführerischer Glanz und ihre laut grölende Musik hinterließen keinen Eindruck, er war damit zufrieden, an den Nachmittagen in aller Stille einen Tee zu trinken und zu plaudern.