Neben der vier Jahre älteren Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hat sich Marlene Streeruwitz als zweite, deutlich vernehmbare, rebellische weibliche Stimme der österreichischen Gegenwartsliteratur etabliert – abseits aller literarischen Moden und politisch-gesellschaftlichen Konventionen. Von PETER MOHR
In jüngerer Vergangenheit hat die inzwischen 75-jährige Marlene Streeruwitz schon einige Male junge Frauen in den Mittelpunkt ihrer Romane gestellt, Figuren, die privat und beruflich gescheitert sind – so geschehen in Die Schmerzmacherin (2011), Nachkommen (2014) und Tage im Mai (2023).
Nina Wagner, die Protagonistin des neuen Romans, hat die fünfzig bereits überschritten und lebt mehr schlecht als recht als Lyrikerin in Wien. Ihr Leben ist irgendwann aus dem Ruder gelaufen, ihre Ehe ist geschieden, ihr Ex-Mann, ein ehemals erfolgreicher Politiker ist dem Alkohol verfallen, und die gemeinsame Tochter will nichts mehr von ihr wissen.
Im März 2024 (wenige Monate vor der erneuten Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten) beschließt Nina einen Neuanfang. Sie kehrt als Gastdozentin nach New York zurück – einst ihr Sehnsuchtsort. Doch New York, das ganze Land und die Menschen haben sich dramatisch verändert. Bei der Ankunft erlebt sie, wie auffällige Personen, also mögliche Migranten abgewiesen werden. Die Fahrt zu ihrem Apartment ist schockierend, das Stadtbild hat sich verändert, die Rücksichtslosigkeit dominiert. Erinnerungen an ihre Kindheit und erotische Fantasien mischen sich mit den Bildern des Alltags – zum Beispiel das Beobachten eines brutalen Vorfalls, als ein Security-Mitarbeiter einen propalästinensischen Studenten mit einem Taser beschießt. »Alltägliche Verschwörungstheorie war das gewesen. Mittlerweile war das die politische Kraft des Internets und nicht anders als jeder andere feudale Entwurf. Immer ein verstörtes männliches Ego im Mittelpunkt.« Immer sieht Nina ein männliches Feindbild als Weichensteller – über allem thront die drohende Trump-Wiederwahl.
In Marlene Streeruwitz‘ Roman stehen existenzielle Verluste und gravierende Zäsuren im Mittelpunkt. Gescheiterte Ehe, gescheiterte Lebensentwürfe, aber auch der Verfall moralischer Werte und der drohende Demokratie-Verlust. Damit einher geht die Entfremdung der Menschen, die zunehmende Einsamkeit im Internet-Zeitalter. »Auflösungen beschreibt, wie Manhattan als Zuhause nicht mehr funktioniert. Auch für mich nicht mehr. Ich habe mich immer für die Zukunft interessiert – und die hat selten in Wien stattgefunden«, hatte Streeruwitz kürzlich in einem Interview mit dem in Wien erscheinenden Standard ausgeführt.
Marlene Streeruwitz lässt nicht Nina, sondern eine auktoriale Stimme erzählen. Das ist nichts für ästhetische Feingeister. Sätze wie Schreie reihen sich aneinander. Oft nur ein einziges, teilweise ordinäres Wort. »Die Ablehnung grammatikalischer Geordnetheit in meinen Texten ist die Ablehnung der Weltverhältnisse, so wie sie sind. Diese Ablehnung ist ein ästhetisches Prinzip und folgt der eigenen poetischen Logik«, hat die Autorin vor einiger Zeit ihren eigenwilligen Stil zu erklären versucht. Der erhoffte Neuanfang ist gründlich schief gegangen. Nina erwacht mit einer blutenden Kopfwunde in einem Krankenhaus. Geblieben ist ihr nur ihr Handy.
Der Schluss ist völlig untypisch für Marlene Streeruwitz und wirkt wie ein Happy-End zweiter Klasse. Wir begegnen Nina wohlauf mit ihrem betagten Nachbarinnenpaar Gladys und Norma, das in fortgeschrittenem Alter sein Lebensglück in einer lesbischen Beziehung fand. Fest steht, Hauptfigur Nina Wagner ist am Ende noch genauso »durch den Wind«, wie vor ihrem Aufbruch nach New York. Verzweifelt, verängstigt und rundherum gescheitert.
Titelangaben
Marlene Streeruwitz: Auflösungen
Frankfurt/M.: S. Fischer 2025
412 Seiten. 28 Euro
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