Lebenssinn durch Seniorenheim

Roman | Kathrin Weßling: Sonnenhang

»In mir herrscht ganz viel Schwere, ich habe ganz viel Scheiße in meinem Leben erlebt. Aber ich bin gesegnet mit einer humorvollen Leichtigkeit, die mir hilft, da durchzugehen«, bekannte kürzlich die Autorin Kathrin Weßling, die mit ihren gerade einmal 40 Jahren schon eine Menge auf dem Buckel hat. Gelesen von PETER MOHR

Nach ihrem Abitur im westfälischen Ahaus ging sie zum Studium nach Köln, brach ab und arbeitete dann für vier Jahre als Regieassistentin und Souffleuse an den Hamburger Kammerspielen. Sie war als Teenager häufig krank, galt als verhaltensauffällig und erst relativ spät wurde bei ihr ADHS diagnostiziert. Inzwischen hat sie die Krankheit »angenommen« und sich als Autorin und Social-Media-Protagonistin etabliert. Ihr Buch, Super, und dir? (2018), wurde als »der Roman ihrer Generation« gefeiert. Auch (Drüberleben, 2012, und Nix passiert, 2020) stießen auf ein lebhaftes Echo. In diesen Werken hat sich Kathrin Weßling, der auf Social Media mehr als 70000 Menschen folgen, sich stark an der eigenen Autobiografie abgearbeitet. Nun haben wir es mit einer fiktiven Protagonistin und einer auktorialen Erzählerin zu tun.

Katharina Webeling ist Ende 30, Single und lebt mit ihrer Katze im Berliner Stadtteil Wedding. Ihr Freundinnenkreis wird dominiert von Frauen ihres Alters, die mal mehr, mal weniger glücklich mit ihrer Mutterrolle leben. Auch in Katharina schlummert – zumindest latent – der Kinderwunsch. Aber plötzlich wird alles anders, gerät ihr Leben aus der Bahn, und sie stellt sich fortan die Frage nach dem Sinn des Lebens. »Ein scheiß großes Myom, das ist so riesig, dass man das nur entfernen kann, wenn man die Gebärmutter rausnimmt, herzlichen Glückwunsch an mich, oder?«

Nach der Unterleibsoperation muss sich die Hauptfigur von ihrem Lebensentwurf, der eine Mutterrolle implizierte, verabschieden. Sie fühlt sich stigmatisiert, kann ihrem Alltag am Schreibtisch und den Abenden in den Kneipen nichts mehr abgewinnen. »Wieviel Frau war sie jetzt noch?«, heißt es im Text. Katharina verbittert aber nicht und kämpft tapfer gegen ihren Makel an – auf der Suche nach einem neuen, anderen Lebenssinn, den sie als ehrenamtliche Mitarbeiterin in der titelgebenden Seniorenresidenz »Sonnenhang« findet. Dort ist sie die junge Frau unter den Alten und erlebt kleine, unbeschwerte Glücksmomente. Als sie mit den Bewohnern Manni und Margot heimlich Prosecco schlürft, als ein Alpaka flieht oder sie mit den Senioren kniffelt, stellt sich bei Katharina ein Gefühl von »heiler Welt« ein.

Das Haus am Sonnenhang wird für sie zu einer Art Ersatzfamilie, in der sie sich wertgeschätzt und geborgen fühlt. Kathrin Weßlings Roman liest sich wie ein mit leichter Hand verfasstes Brevier der Krisenbewältigung, in dem Humor, Trauer und Melancholie im Gleichschritt marschieren. »Kann man nicht auch lachend sehr ernsthaft sein?«, heißt es in Lessings Minna von Barnhelm. Ja, man kann. Den eindrucksvollen Beweis hat Kathrin Weßling mit Sonnenhang vorgelegt.

| PETER MOHR

Titelangaben
Kathrin Weßling: Sonnenhang
Hamburg: Rowohlt 2025
220 Seiten. 23 Euro
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