Hübsche Frauen und der beste Jazz

Roman | Ulla Lenze: Der Empfänger

»Gutes Essen, hübsche Frauen und der beste Jazz der Welt.« So beschreibt Josef Klein, der Protagonist in Ulla Lenzes Roman ›Der Empfänger‹ seine Lebenswelt jenseits des Atlantiks. Als junger Mann von Anfang zwanzig war er 1925 aus Düsseldorf nach New York aufgebrochen, wo er seinen Lebensunterhalt als Drucker verdiente. Von PETER MOHR

Der EmpfaengerDie 46-jährige, in Berlin lebende Schriftstellerin Ulla Lenze beschreibt in ihrem vierten Roman das umtriebige Leben im New York der späten 1930er Jahre sowie im völlig zerstörten Nachkriegsdeutschland – miterlebt vom eher unscheinbaren, lebenslustigen Mitläufer Josef Klein.

Die Hauptfigur hatte nichts mit der NS-Ideologie am Hut, kam aber durch ihren Chef Arthur, der sich in den Zeiten der Wirtschaftskrise seine Kunden nicht auswählen konnte, mit dem »braunen Ungeist« in Berührung. Kunde der Druckerei war auch der »amerikadeutsche Bund«, eine der NSDAP nahestehende Organisation, die sich unter den deutschen Auswanderern in der US-Metropole großer Beliebtheit erfreute.

Als passionierter Hobbyfunker gerät Klein in die Fänge seiner ehemaligen Landsleute, arbeitet für sie und lässt sich von ihnen auch entlohnen. Er merkt nicht (oder will es nicht merken), für welchen Zweck er arbeitet, dass er verschlüsselte Botschaften an das Nazi-Regime in Deutschland übermittelt.

Als er im Madison Square Garden den Aufmarsch der Nazi-Anhänger sieht, fühlt er sich hin- und hergerissen. »›Das ist großartig‚ das ist wie Nürnberg!‹ Josef nickte.« Eine Freundin öffnet Klein die Augen und rät ihm, sich dem FBI zu offenbaren und als Doppelagent zu arbeiten. Damit befindet er sich hoffnungslos zwischen den Fronten und wird nach Kriegsende in den USA sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt.

Autorin Ulla Lenze hat sich in ihrem Roman des Lebenswegs ihres Großonkels Josef Klein bedient. Dennoch geht es ihr nicht um eine möglichst große Faktentreue, sondern sie verbindet den dokumentierten Lebensweg mit ihrer dichterischen Imagination. Lenze hat seriös recherchiert über die starke Nazi-Affinität in der deutschen »Community« New Yorks.

Auf Long Island existierte ein »Camp Siegfried«, das der Hitlerjugend und dem Bund Deutscher Mädchen nachempfunden war, und sie lässt auch den berühmten Flugpionier Charles Lindbergh, der sich gegen einen Kriegseintritt der USA aussprach (nach dem Motto: »America first«), zu Wort kommen.

Nach seiner Haftentlassung kehrt Josef Klein nach Deutschland zurück und sieht das erste Mal seit fast 25 Jahren seinen Bruder Carl und dessen Familie wieder. Carl Klein hatte in seiner Jugend durch einen Unfall ein Auge verloren, war nicht eingezogen worden und stand den Nazis reserviert gegenüber.

Kühle macht sich zwischen den Brüdern breit, die übereinander wenig bis gar nichts wissen, da ihre bisherigen Lebenswege höchst unterschiedlich verlaufen sind. Misstrauen und eisiges Schweigen umgibt sie.

Josef hat während seines Aufenthalts in Neuss Angst vor einer Verhaftung, reaktiviert seine Kontakte zu ehemaligen Nazis, die auch in der Nachkriegszeit noch über ein perfekt funktionierendes Netzwerk verfügen und ihm die Übersiedlung nach Costa Rica ermöglichen, wo er fortan als Don José lebt.

›Der Empfänger‹ ist ein einfühlsamer Roman über das verhängnisvolle Mitläufertum. Die Hauptfigur zeigt wenig Einsicht – weder Schuldbewusstsein noch Reue. Josef Klein wirkt stets etwas unentschlossen, zaghaft – eine Figur ohne echtes Profil: nicht bösartig, nicht dumm – aber ziemlich leicht zu vereinnahmen. Ulla Lenze hat exakt den adäquaten Erzählton für diese Hauptfigur gefunden – unaufgeregt, vornehm zurückhaltend ohne große künstlerische Volten.

»Aber du weißt, was du  getan hast. Und falls du dir etwas vorzuwerfen hast, lerne damit zu leben«, gibt die junge Lauren dem heimatlos gewordenen Klein mit auf den Weg. Ein stilles, aber wirkmächtiges Geschichtsbuch in Romanform.

| PETER MOHR

Titelangaben
Ulla Lenze: Der Empfänger
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2020
302 Seiten, 22 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Vertrieben, gehetzt und beinah erschossen

Nächster Artikel

»Ich bereue nichts«

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Auf der Seite der Guten

Roman | Jan Costin Wagner: Am roten Strand

Zum zweiten Mal ermitteln in Jan Costin Wagners neuem Roman die Wiesbadener Polizisten Ben Neven und Christian Sandner. Es geht um den Pädophilenring, auf den sie schon bei der Aufklärung ihres ersten Falles – 2020 in dem Roman Sommer bei Nacht – um den entführten kleinen Jannis gestoßen waren. Doch in Am roten Strand wird nicht nur intensiv gegen Pädophile ermittelt, sondern die Täter selbst müssen vor einem Mörder geschützt werden, der der Polizei offensichtlich nicht vertraut und deshalb das Recht in die eigenen Hände genommen hat. Von DIETMAR JACOBSEN

Menschen, die auf Bilder starren

Roman | Heinrich Steinfest: Sprung ins Leere

Man kennt Heinrich Steinfest als Erfinder des einarmigen Detektivs Cheng und als mehrfach ausgezeichneten Krimi-Schriftsteller. Sein neuester Roman kokettiert zwar titelführend mit einem Sprung ins Leere, entpuppt sich bei der Lektüre jedoch als vor Ideen überquellende literarische Wundertüte, bis zum Rande hin gefüllt mit künstlerischen Gadgets und Überraschungsmomenten. Dabei schwelgt der Autor in cineastischen Fantasien und umfassenden Kenntnissen des Kunstmilieus – war er doch vor seiner eigenen Schriftstellerkarriere jahrelang als Maler tätig. Von INGEBORG JAISER

Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt

Roman | Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank »Mir geht es ein bisschen zu gut.« Ihnen auch? Der Protagonist starrt auf eine leere, musterlose Wand, die seine letzte Abhängigkeit ist. Zu träumen genügt ihm, er strebt nach der »Satzlosigkeit – ein Schweigen, von dem nicht mehr die Rede sein müsste. Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt.« Doch auf seinem Weg zur lang ersehnten Friedensfeier lauern Dilemmata, Geständnisse, Feinde, Erinnerungen und Empfindungen. Kurzum: das Leben – denn noch ist er ja. Von MONA KAMPE

Egoismus ist die einzige Konstante

Roman | Annette Mingels: Was alles war »Anfangen, Weitermachen, Lieben, Verlieren, Finden« – so lauten die Kapitelüberschriften, die wie inhaltliche Wegmarken fungieren, in Annette Mingels fünftem Roman Was alles war. Während die promovierte Literaturwissenschaftlerin in ihren Vorgängerwerken Die Liebe der Matrosen (2005) und Tontauben (2011) fragile Zweierbeziehungen unter die Lupe genommen hat, schickt sie nun eine Mittvierzigerin auf schmerzhafte familiäre Spurensuche. Von PETER MOHR

Die dunklen Seiten der Liebe

Roman | Margriet de Moor: Mélodie d’amour »Während der Regen in Kübeln vom Himmel herabstürzt, sitzt dort ein Mann in Hemdsärmeln und malt sich aus, wie er mit seiner Frau auf einer anderen Bank sitzt, an einem anderen Ort, und nicht im Regen, sondern in der Sonne. Es wird die ganze Nacht über weiterregnen. Den Mann stört es nicht.« Alles klingt so simpel, so unspektakulär und bieder, und doch eröffnet uns die 72-jährige Niederländerin Margriet de Moor, die in der Vergangenheit auch hierzulande mit Der Herzog von Ägypten (1997), Die Verabredung (2000) und mit ihrem Meisterwerk Sturmflut (2005) beachtliche Erfolge feierte,