Man kennt Heinrich Steinfest als Erfinder des einarmigen Detektivs Cheng und als mehrfach ausgezeichneten Krimi-Schriftsteller. Sein neuester Roman kokettiert zwar titelführend mit einem Sprung ins Leere, entpuppt sich bei der Lektüre jedoch als vor Ideen überquellende literarische Wundertüte, bis zum Rande hin gefüllt mit künstlerischen Gadgets und Überraschungsmomenten. Dabei schwelgt der Autor in cineastischen Fantasien und umfassenden Kenntnissen des Kunstmilieus – war er doch vor seiner eigenen Schriftstellerkarriere jahrelang als Maler tätig. Von INGEBORG JAISER
Yves Kleins Sprung in die Leere (1960) gehört zu den ikonischen Inszenierungen der Kunstwelt und zu den gelungenen Fakes, als dieses Wort noch nicht in aller Munde war. Zahlreiche Epigonen und Nachahmer haben Kleins Trick kopiert und adaptiert. Doch dann taucht in der Lagerhalle einer Münchner Gerüstbaufirma, versteckt unter Planen und Gerümpel, der verschollen geglaubte Nachlass von Helga Blume auf. Darauf die Fotografie einer in die vermeintliche Leere springenden Frau, datiert auf das Jahr 1957, also drei Jahre vor Kleins Performance. Muss die Kunstgeschichte neu geschrieben werden?
Das fragt sich vor allem Helgas Enkelin Klara Ingold, »gewesene Kunstgeschichtlerin« und real praktizierende Museumsaufseherin am Kunsthistorischen Museum in Wien. Ihr semiprofessionelles Interesse am wissenschaftlich brisanten Fundstück wird noch geschürt durch den Umstand, dass Großmutter Helga im Herbst 1957 spurlos verschwunden ist. Könnten sich in der überraschend aufgetauchten Fotografie Hinweise auf ihren Verbleib verbergen?
Weltweite Verfolgungsjagd
Die spannungsgeladene Spurensuche führt über das märchenhaft verspielte Wuppertal (dessen historisches Schwebebahn-Gerüst beschrieben wird, »als sei es aus Restbeständen des Eiffelturms zusammengesetzt worden. Und zwar am ehesten von einem Mann, der – ebenfalls im Jahre 1901 – einen Holzbaukasten namens Matador erfunden hatte“) bis zu einer entlegenen japanischen Insel des Izu-Archipels. Und spätestens im Shinkansen kurz vor Tokyo driftet die bislang harmlose Schnitzeljagd in einen veritablen Agententhriller ab. Spontane Reisebegleitung findet Klara übrigens im gut doppelt so alten Georg Salzer, dem vornehm gescheiterten Inhaber eines Wiener Konditoreikettenimperiums. Wie das Schicksal die beiden Solisten aufeinanderprallen lässt (im wahrsten Wortsinn), erscheint genauso wundersam wie alle weiteren Zufallsbekanntschaften und abstrusen Querverbindungen, die das Geschehen vorantreiben. Staunend versinkt man in einer Geschichte nach der anderen, die in nahezu matrjoschkahafter Manier ineinander gestapelt sind.
Dabei liest sich die verschlungene Odyssee bis ans andere Ende des Globus wie ein skurriles Lonely-Planet-Handbuch oder ein Vademecum für öffentliche Verkehrsmittel, fast beiläufig gespickt mit regionalen Seitenhieben. Mit ironischem Unterton wird Stuttgart »als eine Kombination aus Bob der Baumeister und einer Gebrauchsanweisung fürs Scheitern« entlarvt oder jener Flughafen bloßgelegt, »den man zwar zu Wien zählte, aber nicht mitten in die schöne Kaiserstadt gebaut hatte, sondern wie eine zu groß geratene Gokart-Bahn in die Einöde einer niederösterreichischen Ortschaft.« Schon milder stimmen einen die Beschreibungen der Zugfahrten: »Entgegen dem allgemeinen und statistisch absolut berechtigten Verdacht, dass jeder Zug, auch ein für Amsterdam bestimmter österreichischer Nachtzug, sobald er nach Deutschland kommt, in irgendeine Form von Schwierigkeit gerät, erreichte Klara Ingold genau um die auf dem Fahrplan angekündigte frühe Morgenstunde zuerst Bonn und nach dem Umsteigen auch noch Wuppertal.«
Produkte der Fantasie
Doch man lasse sich nicht von sorgsam eingestreuten Halbwahrheiten einlullen. Steinfests fachkundige Exkursionen in Malerei und Literatur, Film und Fotografie bewegen sich oft messerscharf zwischen Fakten und Fiktion, auch wenn der Einsatz von Fußnoten einen pseudowissenschaftlichen Habitus vorgaukelt. Neben real existierenden Kunstwerken und Kulturschaffenden erblühen farbenfrohe Fantasiewelten. Eine zentrale Rolle spielt das Gemälde Die blinde Köchin des gänzlich fiktiven Malers Hashimoto Sōseki, dem Steinfest augenzwinkernd noch sein eigenes Werk namens Der Betrunkene Berg unterjubelt.
Heinrich Steinfests bekannte Detailverliebtheit und die hohen Ideendichte, seine unzähligen Referenzen, Anspielungen und abstrusen Abschweifungen machen den Sprung ins Leere nicht unbedingt zum schnell konsumierbaren Pageturner, der in einer schlaflosen Nacht durchgelesen werden kann. Viel eher sollte man für die Lektüre dieses opulenten 500-Seiten-Wälzers – so wie Klara Ingold im Roman – um eine Woche Urlaub ansuchen.
Titelangaben
Heinrich Steinfest: Sprung ins Leere
München: Piper 2024
496 Seiten. 24.- Euro
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