»Als sie Strand zum ersten Mal betrat, zwickte ihr Unterleib, und sie spürte, dass sie zu bluten begann. Sie hatte keine starken Schmerzen, bemerkte kaum Stimmungsschwankungen, ab und zu vergaß sie sogar, dass sie einen Zyklus hatte. Ihr Körper funktionierte und war unauffällig, aber so hatte sie nie gelernt, in sich hineinzuhorchen.« In ihrem zweiten Roman schickt die Autorin ihre Protagonistin Marlene als Saisonkraft in das Erlebnisdorf »Strand« auf eine der Restinseln der längst untergegangenen gleichnamigen Nordseeinsel, die mitsamt dem dort gelegenen berühmten Handelsort Rungholt einst vom Meer überflutet wurde, bei der verheerenden Sturmflut im Jahre 1362. Von Rungholt erzählt auch Barbara, eine ältere Arbeitskollegin Marlenes, und das Magische und Gruselige durchzieht den ganze Roman Höllers. Von DIETER KALTWASSER
Bereits Theodor Storm erwähnt den untergegangenen Ort in seiner Novelle ›Eine Halligfahrt‹. Noch heute erzählen sich die Leute an der Küste, dass man bei ruhigem Wetter die Glocken von Rungholts Kirche im Watt läuten hören könne. Man kann auch noch Reste von Strand besuchen: die Inseln Nordstrand, Pellworm und die Hallig Nordstrandischmoor. Höller, geboren 1996 und aufgewachsen in Bonn, studierte Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften in Dresden. Die Autorin hat ein Faible für szenisches Schreiben. Ihr Debütroman ›Schöner als überall‹ (2019) verhalf ihr zum Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendium. Jetzt zeigt sie uns ein Ferienparadies rückwärtsgewandter Art.
Marlene hat mit Ende 20 endlich ihr Studium der Medienpraxis beendet. Bevor es weitergeht, möchte sie zunächst einmal abschalten und will sich nach ihrem Studienende erst mal »einfach ein halbes Jahr keine Gedanken machen« müssen. Sie hat in dem Erlebnisdorf am Wattenmeer eine Stelle als Aushilfskraft in einem Souvenirladen angenommen. Dort müssen sie und andere Aushilfen, die dort in einfachen Baracken leben, in historischen Kostümen das nordfriesische Inselleben um 1900 für die Touristen »authentisch« aufführen bzw. simulieren. »Sie betrachtete das Fachwerk und die Strohdächer links und rechts des Weges. Alles wirkte unnatürlich geordnet, als würde jeder Kopfstein poliert, als wüchsen die knospenden Sträucher unter strengster Kontrolle, und es würde sie nicht wundern, wenn sich hinter den Haustüren bloß weites, flaches Land befände. Es lag eine Stille über dem Ort, die sie schaudern ließ und zugleich alles in eine Schläfrigkeit kleidete. Es war, als beträte sie ein Gemälde.« Alles dort soll sein wie schon rund 100 Jahre zuvor: Brauchtum, Handwerk, Kleidung. Marlene kommt an ihrem Geburtstag auf die Insel und zieht in einen Schlafraum in einer der Baracken. Sie wird eingekleidet und in die Gebräuche des Freilichtmuseums eingewiesen: Innerhalb der »Kostümgrenze« ist keine moderne Kleidung gestattet, kein Handy, keine Kopfhörer, kein Radio.
Als Marlene dann Janne kennenlernt, die hier aufgewachsen ist, verliebt sie sich in sie, sie fühlt sich wie elektrisiert und von ihr magisch angezogen. Beide kommen sich näher, und bald spürt Marlene auch körperlich, dass Janne ein Geheimnis in sich trägt, welches weit in die Vergangenheit der Insel führt. Die Autorin verbindet gekonnt eine Liebesgeschichte mit der Klimakrise, im Watt erinnern Überreste der untergegangenen Stadt Rungolt ständig daran, welche Gefahr durch den steigenden Meeresspiegel und die Erderwärmung droht, und in ihrem Roman vermischen sich mitunter Zauber und düstere Realität. Nicht nur ihre Liebe zu Janne verändert die Gefühlswelt und die Wahrnehmung von Marlene, sondern die Insel selbst. Von der Entzauberung dieser rückwärtsgewandten Idyllenbildung, dem Geschehen hinter den Fassaden und Kostümen und von Menschen, die den vermeintlichen flachen Äußerlichkeiten Tiefe geben und sich lieben, davon erzählt Kristin Höller in ihrem fein gewobenen und fesselnden Roman. Ein sehr empfehlenswertes Buch!
Titelangaben
Kristin Höller: Leute von früher
Berlin Suhrkamp Verlag 2024
316 Seiten. 22 Euro