Alles, was ich über Onkel Grischa weiß

Roman | Lena Gorelik: Die Listensammlerin

Ein totgeschwiegener Onkel, eine sterbende Großmutter und eine schwerkranke Tochter lassen die Nerven blank liegen. Und dennoch vermag es Die Listensammlerin – und natürlich Lena Gorelik –, mit Verve und Einfallsreichtum die Bruchstücke einer ungewöhnlichen Familienchronik zu schreiben. Von INGEBORG JAISER

Listensammlerin
Seit ihrer Kindheit ist Sofia einem ganz besonderen Spleen, einer hartnäckigen Marotte verfallen. Sie schreibt Listen – mal zur puren Erbauung und Entspannung, mal triebhaft und obsessiv. Die Listen vermitteln ihr Kraft und Ruhe, so wie sich andere Menschen zu Alkohol, Drogen oder ins Gebet flüchten.

Sie schreibt, wann immer sie von Langeweile, Stress oder Nervosität übermannt wird. Sie schreibt, um abzuschalten und auf andere Gedanken zu kommen. »Wunschlisten, Was-wäre-wenn-Listen, Namenslisten, Katzenlisten, Krankenhauslisten, Essenslisten, Menschenlisten«. Listen mit möglichen Allergien, mit tollen Hundenamen und mit Büchern, die noch geschrieben werden müssen.

Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs

Denn in ihrer Vorstellung ist Sofia kurz davor, »richtig zu schreiben«, Romane, Kolumnen, Essays. So wie Ehemann Flox, den sie jahrelang auf Reportagereisen und Restauranttests begleitet hat. Damals, als sie noch in Jeansgröße 28 passte und Töchterchen Anna noch nicht auf der Welt war. Jetzt machen sie nur noch »Urlaub auf den Biobauernhof, einen Mittagsschlaf von zu Hause entfernt«. Und mit Jeansgröße 33 macht selbst das Shoppen keinen Spaß mehr.

Doch nicht nur Sofias Figur ist aus der Façon geraten. Das gesamte Familiengefüge befindet sich in Schieflage. Mutter Anastasia überstrapaziert ihre emotionsgeladene russische Seele und die demente, hochbetagte Großmutter liegt schwerst pflegebedürftig im Altenheim, mühsam am Leben gehalten von Astronautennahrung und Hühnerbrühe, eingeflößt mit »Löffel, Schnabeltasse, Strohhalm, sogar einer Babyflasche mit Sauger, die Anna schon längst nicht mehr braucht«. Was Anna aber dringend braucht, ist eine Operation. Denn sie wurde mit einem schweren Herzfehler geboren.

Querkopf und Taugenichts

Kurz vor dem gefürchteten OP-Termin wird Sofia gebeten, Großmutters Wohnung aufzulösen. Dabei stößt sie auf eine Holzschatulle mit Schriftstücken. Mit geübtem Blick erkennt sie in kyrillischen Lettern verfasste Tabellen. Sollte das Listenschreiben gar in der Familie liegen? Sofias Recherchen führen zum bislang tot geschwiegenen Onkel Grischa, einem wundersamen Revoluzzer, Querkopf und Taugenichts. Lässt sich ein wohlgehütetes Familiengeheimnis lüften?

In ihrem fünften Roman verwebt die 1982 in St. Petersburg geborene Autorin Lena Gorelik, die als Kind mit ihren Eltern als »Kontingentflüchtling« nach Deutschland kam, ihre eigene Erfahrungswelt mit aktuellen Gesellschaftsfragen. Standen bislang die Themen Migration und Integration im Mittelpunkt ihrer Bücher, werden sie in der Listensammlerin angereichert durch das Motiv familiärer Zerrissenheit: Noch während Sofia mit ihrer neuen Mutterrolle und der schweren Erkrankung ihrer kleinen Tochter ringt, wird die demente Großmutter selbst wieder zum Kind.

Glaubwürdig, überzeugend und bewegend, mal realistisch und schonungslos wie in einem Dogma-Film, mal witzig und ironisch bis zum Galgenhumor, erzählt Lena Gorelik vom täglichen Aufgeriebensein zwischen Kinderarzt und Geriatrie, zwischen Intensivstation und Kita. Am Ende schließt sich der Kreis der Familienbande und man mag allzu gern an Großmutters Binsenweisheit glauben: »Man gewöhnt sich an alles, auch an die Angst.«

| INGEBORG JAISER

Titelangaben:
Lena Gorelik: Die Listensammlerin
Berlin: Rowohlt 2013
352 Seiten. 19,95 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Blaubart als Gipfelstürmer

Nächster Artikel

Illustrierte Gedankenspiele

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Ja so san´s, die alten Kriegersleut

Roman | Peter M. Roese: Allgäu Sixties Seit einiger Zeit ist ein äußerst burleskes Buch auf dem Markt: Allgäu Sixties von Peter M. Roese. Dieses Werk – angekündigt als olivgrün angehauchte Hommage und Liebeserklärung an das Allgäu und die 60er Jahre – ist ein Erinnerungstext gespickt mit Plattitüden der Bundeswehr, Allgäuer Heimatepisoden mischen sich mit Schmankerln der Wochenendfreigänger. Durch ein militaristisches Absurdistan hat sich HUBERT HOLZMANN geschlagen.

Verführen, amüsieren, provozieren

Zwei neue Bücher zum 70. Geburtstag von Georg-Büchner-Preisträger Botho Strauß am 2. Dezember* Der exzentrische Nonkonformist Botho Strauß, der zur Melancholie neigende erzählerische Philosoph und vehemente Zeitgeistkritiker, ist deutlich ruhiger geworden und schlägt neuerdings bisher bei ihm noch nicht erlebte versöhnliche Töne an. Von PETER MOHR

Graben im Gedächtnis

Roman | Patrick Modiano: Unsichtbare Tinte

»Ich habe mich nie an eine chronologische Reihenfolge gehalten. Sie hat für mich nie existiert.« So treffend hat der französische Schriftsteller Patrick Modiano vor einigen Jahren sein eigenes Schreiben charakterisiert, das wie ein unendlicher Erinnerungs- und Assoziationsprozess auf den Leser wirkt. Der neue Roman Unsichtbare Tinte des Nobelpreisträgers Modiano – gelesen von PETER MOHR

Relikte aus dem Kalten Krieg

Krimi | Oliver Harris: London Underground Nach London Killing (Blessing 2012), dem hochgelobten Debüt des britischen Autors Oliver Harris (Jahrgang 1978), liegt jetzt mit London Underground der zweite Fall für Detective Nick Belsey auf Deutsch vor. Diesmal bekommt es der Mann mit der dunklen Seite seiner Heimatstadt zu tun, muss hinunter in Schächte, geheime Atombunker und vergessene Bahnstationen, um eine Rachegeschichte aufzudecken, die zurückreicht bis in die Hochzeiten des Kalten Kriegs. Spannend, wendungsreich und aktueller, als man denkt. Von DIETMAR JACOBSEN

Hochzeiten und Todesfälle

Roman | Thommie Bayer: Die kurzen und die langen Jahre Als Rock-Poet, Journalist, Drehbuchschreiber und Maler ist der Autor Thommie Bayer ein wahrer Tausendsassa. Sein neuester Roman Die kurzen und die langen Jahre kreist erneut um die ganz großen Themen: Liebe und Musik. Eine melancholische Zeitgeistreise ist er ohnehin. Von INGEBORG JAISER