Mit Einen Vulkan besteigen schlägt Annette Pehnt ungeahnt neue Wege ein, formal wie inhaltlich. 35 Erzählungen berichten von freudvollen Überraschungen und friedlichen Momenten, Einsamkeit und Ausgrenzung, Kindheit, Krankheit und Tod. Minimalistisch reduziert und von jeglichem Ballast befreit. Ein auch für die Leser ungewöhnliches literarisches Experiment. Von INGEBORG JAISER
Annette Pehnt leitet das Hildesheimer Institut für Literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft, hat selbst über zwei Dutzend Bücher verfasst und wurde mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet, zuletzt für ihr umfangreiches Gesamtwerk mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds. Grenzen zu sprengen und neue Perspektiven zu vermitteln gehört zu ihren Gaben. Mit umso größerem Erstaunen hält man nun ihr neues Buch in den Händen, das den Untertitel Minimale Geschichten trägt. Eine überraschende Übung in radikaler Reduktion und Zurückhaltung.
Innere Monologe
Dennoch versprechen die Einzeltitel einen prickelnden Vorgeschmack auf geheimnisvolle Themen: Einen Vulkan besteigen, Eine Wahl gewinnen, Von innen brennen, Einen Ring verlieren – allesamt aus der Ich-Perspektive verfasst, auch wenn dieses Ich nie dasselbe ist. Nur aus den Zusammenhängen lassen sich Geschlecht und Alter des Erzählers vage erahnen.
Doch ist dies überhaupt von Belang? Vielmehr geht es um grundlegende, existentielle Gefühle und Erfahrungen. Um den heimlichen Wunsch, eine Schwester zu haben oder eine enge Vertraute. Um die unheilvolle Verlockung, in den Abgrund zu stürzen. Um die Herausforderungen der Mutterschaft, die Bürden der Macht, Ausgrenzungen am Arbeitsplatz. Manche Geschichten verströmen eine wohlige Wärme, so wie der »Gesundheitstee«, den das Nachbarmädchen in kindlicher Ernsthaftigkeit der kranken Ich-Erzählerin zubereitet. Andere geben Rätsel auf, hinterlassen offene Enden und unbeantwortete Fragen, verleiten zum Weiter-Erzählen und Sinnieren.
Alles Überflüssige weglassen
Trotz der Komplexität der Themen verblüffen alle Stories durch syntaktische Schlichtheit in Subjekt-Prädikat-Objekt-Manier, ohne aufgesetzte Literarizität und elaborierte Codes. Prinzipiell wird linear erzählt, unter Verzicht auf Zeitsprünge oder wechselnde Perspektiven. Es könnten Geschichten in Einfacher Sprache sein, Kalendergeschichten, Vorlesegeschichten, Gute-Nacht-Geschichten. Nicht allzu abwegig, wenn man bedenkt, dass die 1967 in Köln geborene und heute in Freiburg lebende Schriftstellerin Annette Pehnt allein acht Kinderbücher verfasst hat. Ihre Nachbemerkung zu Einen Vulkan besteigen bestätigt diese Vermutung: »Ich wollte wissen, was entsteht, wenn ich (radikaler als sonst) im Schreiben alles Überflüssige weglasse. Was geschieht mit der Sprache, wenn ich sie konsequent entschlacke, dass keine Füllwörter, keine verschachtelten Sätze, keine Ausschweifungen, keine elaborierten Metaphern Platz haben.«
Der Versuch der Entschlackung reicht bis in die formale Gestaltung hinein. Auf den ersten Blick wirken alle Texte wie Langgedichte, linksbündig gesetzt, lose überschaubar. Jeder Satz beginnt auf einer neuen Zeile – ein Umstand, der zunächst irritieren mag, jedoch Orientierung und Lesbarkeit auf verblüffende Weise begünstigt. Ob dieses ungewöhnliche Buch die angestrebten Adressaten für Leichte Sprache erreichen wird, ist fraglich. Es bleibt jedoch ein überraschendes Experiment, das auch die Leser in ihrer Erwartungshaltung und Lektüregewohnheit herausfordert.
Titelangaben
Annette Pehnt: Einen Vulkan besteigen. Minimale Geschichten
München: Piper 2025
279 Seiten. 24 Euro
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