/

Volare, cantare, oh, oh!

Hanns-Josef Ortheils aktueller Roman fühlt sich an, als ob man in Schwebebahnen über das Geschehen gleiten würde, leicht und luftig, trotz des umwölkten Hintergrunds der deutschen Nachkriegs-Ära. In episodenhaften Kapiteln reihen sich Station für Station neue Abschnitte und Ausblicke, die den jungen Josef von seinen unzugänglichen Fantasiewelten in eine greifbare Zukunft begleiten. Von INGEBORG JAISER

In der literarischen Verarbeitung seiner Lebensräume bestand lange eine geographische Lücke zwischen Köln und Stuttgart, dem Westerwald und Venedig, die Hanns-Josef Ortheil nun mit Leben füllt. Josef heißt der »kleine Mann«, der Ende der 1950er Jahre mit seinen Eltern nach Wuppertal zieht. Nicht freiwillig und nicht freudig, eher der Not und den Umständen gehorchend. Vom überschaubaren Carré des Erzberger Platzes in Köln in eine hügelige, fremde Stadt, von einem Haus mit »lieben Menschen« in ein unbekanntes Eisenbahnerviertel, vom ersten in den dritten Stock.

Ein Neuanfang, ein zweiter Versuch bedingt diesen Umzug. In Köln ist Josef gleich nach der Einschulung »als hoffnungsloser Fall« wieder ausgemustert worden. Zu zurückgezogen und in sich gekehrt wirkt der allzu stille Junge, wenig kommunikativ und zugänglich. Dabei ist ihm ein absolutes Gehör attestiert worden. Im Alter von 4 Jahren hat er mit dem Klavierspiel begonnen. Und tatsächlich nimmt er die Welt in Tönen, Klängen und Schwingungen wahr. »Wup-per-tal ist ein fremdes Wort, das u ist dunkel, und die beiden p wollen es wegblasen, schaffen es aber nicht. Die Heckenrosen auf dem großen Platz zeigen sich in blassen rötlichen Farben. Wenn er ihnen zuhört, flüstern sie Wuppertal wun-der-bar, sie wollen ihn beruhigen oder verwirren, eins von beidem.«

Drama des begabten Kindes

Anders als in seinen offen autobiographischen Werken wie Der Stift und das Papier (2015) oder Die Moselreise (2010), die aus der Ich-Perspektive erzählen, wählt Hanns-Josef Ortheil nun einen distanzierteren Standpunkt, zeigt den 6-jährigen Josef aus der Außensicht, jedoch klar als nahen Wesensverwandten. Anrührend, zugleich lebensklug fällt der behutsame Blick auf einen in sich selbst eingeschlossenen Jungen, dessen außerordentliche Begabungen von der Norm abweichen und ihn zum Außenseiter und Sonderling abstempeln. »Ein Idiot ist ein einzelner Mensch, der sehr allein ist und den niemand versteht, so einer war er in Köln.« Selten ist so hellsichtig und einfühlsam über ein hochbegabtes, introvertiertes Kind geschrieben worden, dessen Fähigkeiten von der Erwachsenenwelt verkannt, von Gleichaltrigen verspottet werden. Dessen synästhetische Empfindungen entweder zu herausragenden Leistungen oder zu unverständlichen Reaktionen führen.

Doch Wuppertal soll für den Neuanfang stehen. Die prägendste Figur ist hier das Nachbarmädchen Mücke, Tochter einer sizilianischen Mutter aus einer Familie von Gemüsehändlern. Aus ihr erwächst die Liebe zu Dolci und Canzoni, die italophile Lebenslust und Leichtigkeit, kurzum: ein Impetus, den auch Hanns-Josef Ortheil zeitlebens angetrieben hat. So steht der Romantitel Schwebebahnen nicht nur für das Markenzeichen Wuppertals, sondern vereint auch eindrucksvoll das Schwebende, Ungewisse der nahen Zukunft mit dem verlässlichen Halt wohlwollender Menschen. Nicht nur eine engagierte Schulleiterin, ein resoluter Geistlicher und ein Jugendtrainer mit Blick für verborgenes Potential sorgen für geordnete Bahnen.

Phasen des Übergangs

In Wuppertal fügen sich die Facetten verschiedener Lebensbereiche – Schule und Kirche, Sportplatz und Schwimmbad, öffentlicher Raum und versteckte Höhle – zu einem neuen Kosmos, einem luftigen Zwischenraum des Übergangs, der der biederen, zuweilen bleiernen Behäbigkeit der Zeit trotzt. Für die Romanfigur Josef bedeutet die Phase der Neuorientierung einen wichtigen Schritt in Richtung Selbstermächtigung. Für den Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil gestaltete sich das Beobachten und Festhalten dieser Entwicklung überraschend leicht: »Ich hatte das seltsame Gefühl, als schreibe sich der Roman von selbst.«

Die literarische Freiheit vermag dem Rückblick auf eine düstere Ära auch helle Seiten abzugewinnen. Nicht nur die Freude des Komponierens und Improvisierens treibt den jungen Josef am Ende voran, auch der Ansporn, nach Absolvierung der Grundschule in Wuppertal ein altsprachliches Gymnasium in Mainz zu besuchen. Und, wer weiß: vielleicht steht uns Lesern bald schon ein neuer Roman über Aurea Moguntia ins Haus?

| DIETMAR JACOBSEN

Titelangaben
Hanns-Josef Ortheil: Schwebebahnen
München: Luchterhand 2025
318 Seiten. 24 Euro
| Erwerben Sie diesen Band portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe
| Mehr zu Hanns-Josef Ortheil in TITEL kulturmagazin

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Wo die Blumen blühen

Nächster Artikel

Real Live Adventure

Weitere Artikel der Kategorie »Neu«

Jagd auf den Weltwundermacher

Roman | Arne Dahl: Kaltes Fieber

Mit Kaltes Fieber setzt der schwedische Bestsellerautor Arne Dahl seine Reihe um die Stockholmer Kriminalistin Eva Nyman und ihr vierköpfiges Team von Spezialisten fort. Diesmal bekommt man es mit einem Täter zu tun, der sich offensichtlich vorgenommen hat, mit seinen Morden die sieben Weltwunder der Antike zu illustrieren. Ist es ein Künstler, der da – akribisch und mit exakten Maßstäben arbeitend – brutal getötete Menschen und spektakuläre Bauwerke zu mörderischen Tableaus vereinigt? Und welche Rolle spielt dabei jene Motorrad-Gang, die schon in Stummer Schrei, dem Vorgängerband der neuen Thriller-Reihe von Dahl, auftauchte und für gehörig Trouble sorgte? Von DIETMAR JACOBSEN

Ortskunde der Vergangenheit

Konstantin Ferstl: Die blaue Grenze

Seine Verwandtschaft fand noch Trost und Halt zwischen dem stoischen Pragmatismus derber Bäuerlichkeit und dem Segen des Katholizismus. Doch Fidelis Lorentz, der entmutigte Antiheld aus Die blaue Grenze, lässt alle Wurzeln und Verpflichtungen hinter sich und flieht in die Ferne. Der 1983 geborene Autor Konstantin Ferstl vereint in seinem Debütroman auf unnachahmliche Weise Zeitgeschichte, Familienhistorie und der Welten Lauf. Von INGEBORG JAISER

Wo die Blumen blühen

Kinderbuch | Matías Acosta: Mabelle

Das wunderschön illustrierte Bilderbuch für kleine Leser ab 5 Jahren stellt uns Mabelle vor, ein junges Mädchen, das gerne Rad fährt und etwas außerhalb der Stadt wohnt. Begleitet sie auf ihrer Radtour in die Umgebung. Von BARBARA WEGMANN

Die wahre Tochter Südafrikas

Menschen | Vor 100 Jahren wurde Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer geboren

»Nadine Gordimer ist eine der ganz großen literarischen Stimmen unserer Zeit. Als Meisterin ihres Metiers verbindet sie politische Themen, literarischen Anspruch und sprachliche Ästhetik in einem harmonischen Ganzen«, hatte vor 15 Jahren der damalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber in München in seiner Laudatio zur Verleihung des Internationalen Corine Buchpreises für Nadine Gordimers Lebenswerk verkündet. Von PETER MOHR

Auf Fang

TITEL-Textfeld | Wolf Senff: Auf Fang

Nach den Tagen der Ohnmacht waren die Männer begierig darauf, dem Teufelsfisch nachzusetzen. Eldin ging noch behutsam mit der Schulter um. Die letzten Tage hatte er den linken Arm in einer Schlinge getragen, sein Wurfarm war zum Glück unbehelligt.

Die Wunden der anderen waren ausgeheilt. Scammon war ein geduldiger Commandeur, Zeit spielte keine Rolle, er hatte niemanden gedrängt.

Der Teufelsfisch sei tagelang provozierend unverfroren in der Lagune aufgetaucht, sagte Crockeye zornig.

Er zeige seine Fluke aber wie einen freundlichen Gruß, entgegnete Pirelli, wie eine Geste unter Nachbarn, als fühle er sich zu Hause.