Wie entsteht die Idee zu einem Roman, was macht die Arbeit daran aus und was kommt danach? Martin Lechner und Tobias Premper sprechen über ihr Schreiben und ihre in diesem Jahr erschienenen Romane ›Die Verwilderung‹ (Residenz) und ›Sommer Ende‹ (Steidl).
ML
Vor einigen Jahren haben wir ein Gespräch über das Notizenmachen geführt und später auch eines über das Verfassen von Miniaturen.
TP
Ja, genau. Die Stichworte waren da »Zerstreute Konzentration – Ohne Notizen geht es nicht«, und das Miniaturengespräch hieß »Das Ja zum Kieselstein«. Der Titel bezog sich darauf, dass eine Miniatur nach dem Lesen noch nicht zu Ende ist und nachwirkt wie ein Kieselstein, der in einen See geworfen wird und weite Kreise zieht.
ML
Heute wollen wir über das Schreiben von Romanen sprechen, weil wir in diesem Jahr jeder einen neuen Roman veröffentlichen. Zu Beginn würde ich gerne fragen, ob du dich für eine bestimmte Romanidee entscheiden kannst, bevor du mit dem Schreiben anfängst.
TP
Ja, kann ich. Bevor ich mit Sommer Ende angefangen habe, stand ich vor der Frage, ob ich mal etwas rein Kommerzielles versuchen sollte, einen Krimi etwa oder eine Liebesgeschichte. Ich hatte mit den jeweiligen Geschichten auch schon begonnen, habe mal an der einen, mal an der anderen gearbeitet und Material gesammelt. Letztlich habe ich mich dann aber dafür entschieden, eine Art Befreiungsgeschichte zu schreiben, weil mich das anging und ich neugierig war, was ich beim Schreiben alles über mich herausfinde.
ML
Die Verwilderung ist auch eine Befreiungsgeschichte, nur ist nicht klar, ob die Befreiung gelungen oder gescheitert ist. Aber was wäre das für eine kommerzielle Liebesgeschichte gewesen?
TP
Boy meets girl am Flughafen. Ein bisschen dämlich und unfähig geschrieben, mit plumpem Zeitgeschehen und Jahrmarktgeschrei. Etwas Klischeehaftes und Vorhersehbares, das Lesende schon kennen, aus dem Fernsehen, Kino oder anderen Büchern. Etwas, auf das sie sich nicht erst einlassen müssen, von der Story her, aber auch vom Erzählkonzept. Kurze Häppchen-Kapitel, in denen eine Alltäglichkeit die nächste Selbstverständlichkeit jagt. Eine der Figuren hat auch ein anschlussfähiges Problem, Trauma oder Handicap.
ML
Also richtig schöne Unterhaltung, Ablenkung, Weltflucht.
TP
Nun ja, schön? Ich habe mich eher schwer damit getan.
ML
Weil das für dich im Grunde verwerflich ist?
TP
Wenn es sich um eine leblose, geistlose, alberne Unterhaltungs-Schmonzette ohne Fantasie handelt, schon.
ML
Du bist doch nur neidisch, weil sich andere Bücher besser verkaufen als deine.
TP
Meinst du deine Bücher?
ML
Schön wärs.
TP
Aber heißt das dann auch, dass Bücher, die sich besser verkaufen, bessere Bücher sind?
ML
Nun, sagen wir so: Bücher, die alle gut finden, sind sicher nicht notwendig die besseren Bücher. Aber auch das Gegenteil stimmt nicht: Bücher, die alle gut finden, sind ja nicht notwendig schlecht.
TP
Wenn es keine weichgespülte Kitschkonserve ist, können das ruhig 100.000 Leute lesen. Aber das Buch musst du mir mal zeigen.
ML
Soll ich?
TP
Du hast natürlich recht. Es gibt erfolgreiche gute Bücher. Aber die sind die Ausnahme. Es gibt aber vor allem und überhaupt und überall auf der Welt fantastische Bücher, egal, wie unerfolgreichlos sie sind.
ML
Ich möchte auch mal ein unerfolgreichloses Buch schreiben.
TP
Ich denke, wir sollten mit den Romanideen weitermachen.
ML
Gern, also, um auch auf meine Eingangsfrage zu antworten: Mich für eine Romanidee zu entscheiden, ist mir bisher nicht gelungen. Früher hätte ich es nicht mal gewollt. Der Roman, die Geschichte, das Thema, das kam jedes Mal aus dem Schreiben heraus. Ideen im Vorfeld abzuwägen, erschien mir abstrakt, kalkuliert. Vor allem zu Beginn, als ich wie ein Esel vor dem Weltall stand, dem ersten, noch ungeschriebenen Roman, da habe ich geradezu dogmatisch darauf bestanden, dass die Schrift dem Roman vorausgeht. Dass der Roman, wenn überhaupt, aus der Schrift kommen wird und kommen muss. Weil das Schreiben ein Abenteuer ist, die Erforschung eines unbekannten Gebiets, die mich aus den gewohnten Koordinaten herauslöst. Das hat sich geändert. Nicht vollständig, aber teilweise. Der Gegensatz von kunstvoll freiem, blauem Schreiben und künstlicher, kühler Planerei kommt mir heute selber ziemlich künstlich vor.
TP
Wie lange dauert es, bis eine Idee aus dem Schreiben heraus entsteht? Wie viel schreibst du, bis du ein Thema vor Augen hast? Sind das ein paar Sätze oder 100 Seiten?
ML
Das kann dauern. Beim zweiten Roman habe ich beispielsweise erst hundertachtzig Seiten zu Papierfliegern falten und aus dem Fenster segeln lassen müssen, bis sich die Route des Romans geklärt hatte. Beim dritten Mal ging es schneller. Aber der entscheidende Moment in der Verwilderung, das Hervorbrechen der Klaue aus dem Finger von Marlies, meiner Heldin, ist ihr genauso unvorhersehbar widerfahren wie mir. Solche Überraschungen im Schreiben, bei denen etwas auftaucht, das ich nicht im Vorhinein wusste, das ich auch nicht gleich verstehe, das mich verwundert und verwirrt, die kommen mir immer sehr erfrischend vor, wie ein Riss im Kessel des Bewusstseins.
TP
Ich brauche auf jeden Fall eine Szene vor Augen, bevor ich mich hinsetze und sie schreibe. Vielleicht habe ich diese vorher im Notizbuch oder auf einem Zettel skizziert, vielleicht habe ich sie eine Weile mit mir herumgetragen. Und dann beginnt das Schreiben. Dass ich mich einfach ans Laptop oder vor ein weißes Blatt Papier setze und ohne Ansatzpunkt losschreibe, habe ich immer mal wieder erfolglos versucht. Aber mit der Idee zum Beispiel für eine Szene nimmt im Schreiben dann alles Gestalt an, komme ich in einen Rhythmus, kann ich die Freiheit entwickeln, ganz bei mir und der Sprache zu sein, entstehen Verästelungen und neue Ideen.
ML
Diese Art Vorstellungen brauche ich natürlich auch, flackernde Visionen, wie eine Szene aussehen könnte. Hilfreicher ist aber oft ein sprachlicher Glutkern, ein erster Versuch, in Formulierungen zu kommen, die das reine Verständnis übersteigen. Aber mal abgesehen von diesen Unterschieden haben wir, denke ich, dahingehend Einigkeit, dass wir keine Debattenanschlusstexte schreiben wollen, die in journalistischer Weise aktuelle Themen aufgreifen, um mitreden zu können, oder?
TP
Interessieren dich aktuelle Themen, Debatten und überhaupt Politik etwa gar nicht?
ML
Doch, total, ich verfolge viele Debatten sehr genau, vielleicht zu genau, ich glaube nur nicht, dass Literatur das richtige Medium der Reaktion darauf ist. Literatur ist langsam, erstens, und zweitens, kein Abbild der Wirklichkeit, sondern ein Umweg dahin, und drittens, glaube ich fest daran, dass die Kraft von Literatur gerade darin besteht, dass sie noch nicht vollends eingefügt ist in das diskursive Bewusstsein, sondern Energien bereithält, die sinnlicher Art sind.
TP
Sinnliche Energien und existentielle Themen. Also, bezogen auf „Sommer Ende“ wären das: Wie befreie ich mich aus einer Beziehung, die auch von Gewalt geprägt ist? Wie und in welcher Gesellschaft will ich leben? Wie sieht mein Platz in der Welt aus? Das kommt mir jetzt ganz stumpf vor, wenn ich solche Themen beim Namen nenne. Und darin kann auch ein Problem von Literatur liegen, wenn sie sich zu sehr einmischt. Ich bevorzuge da eher ein Sich-nicht-Einmischen. Mehr beschreiben, mehr leuchten lassen. Und wer sich die Zeit zum Lesen nimmt, aufmerksam und neugierig ist und diese Gedanken mitgeht, kann sich auch zu anderen Themen, etwa aktuellen Debatten, seine eigenen Gedanken machen.
ML
Vielleicht könnte man auch grundsätzlich sagen, dass ein Text stets mehr ist als sein Thema, wie existentiell dieses auch sei. Ein Thema ist ja oft nur ein Schildchen, das dem Text im Nachhinein angeheftet wird. Vielleicht kommt es dir auch deshalb so stumpf vor, wenn du eins davon beim Namen nennst. Weil dir der Zettel so unangenehm am Gaumen klebt. Interessanter finde ich die Spannung, die entstehen kann, wenn man versucht, ein Thema auf das Textgeschehen zurückzuführen, es wiederzufinden im einzelnen Satz. Häufig aber, so mein Eindruck, behauptet das Thema eine Wichtigkeit, um andere Dinge ins Unwichtige abzuschieben. Damit dient es letztlich der Ausschaltung der einzelnen Sätze, aus denen der Text besteht, ihres schwer fasslichen Flimmerns und Leuchtens, das du erwähnst. Für Selbstdarstellungen, Diskussionen und Debattenanschlüsse sind derlei Wichtigkeitsbehauptungen aber natürlich ein gutes Instrument.
TP
Das Wie wird ausgeblendet, und es geht nur noch um das Was.
ML
Und wenn Gott eine Türe schließt, dann öffnet er ein Waffengeschäft.
TP
Das hast du doch von den Simpsons geklaut.
ML
Nein, von Herman Hermann.
TP
Beim Debattenanschluss fällt mir noch der Kunstschamane Joseph Beuys ein. Nach Beuys fängt der Fehler schon an, wenn Künstler:innen in den Laden gehen und Pinsel und Leinwand kaufen. Weil sie dann etwas bedienen, was der Betrieb verlangt, ein Leinwandbild etwa, das sich gut verkaufen lässt. Im Buchbusiness gibt es das auch. Da werden die Schreibenden von Agent:innen, Lektor:innen, Verleger:innen oder Marktforschungsabteilungstrotteln beeinflusst, was sie schreiben sollen. Und die Lesenden werden dann beeinflusst, was sie lesen sollen. Beide werden da zum Teil regelrecht entmündigt.
ML
Jetzt bist du aber sehr streng.
TP
Und ungerecht.
ML
Ja, weil es nicht nur den einen Betrieb gibt, der nur die eine Sache will. Sicher, Tendenzen, die gibt es natürlich, einen gewissen Fiktionsbammel, zum Beispiel, aber Gleichförmigkeit und Entmündigung, nicht, dass ich wüsste.
TP
Und über die saisonalen Covertrends wie Frau-im-Wasser, gemaltes-Frauen- oder Tierportrait oder Schreibschrifttypo-mit-Blumen haben wir noch gar nicht gesprochen.
ML
Zum Glück nicht.
TP
Gut, dann weiter mit dem, was dich und mich beim Thema Roman beschäftigt.
ML
Bei der Verwilderung war das vor allem das Gefühl meiner Heldin, die Angst, und nicht so sehr das Besonderungsszenario, das in vielen Verwandlungsgeschichten steckt.
TP
Das Besonderungsszenario?
ML
Kann man das nicht sagen?
TP
Nein.
ML
Schade.
TP
Na gut, ist eigentlich ein sehr schönes Wort.
ML
Ich meine eine Kraft, die meine Heldin herausheben könnte aus der Masse, die Aufgabe, die ihr damit zuwachsen würde, der Sinn, den ihr Leben dadurch erführe. Das wäre die Superheldengeschichte und, negativ gewendet, die Horrorgeschichte von Werwölfen oder sonstigen Verwandlungswesen. Mich hat dagegen die Entfremdung interessiert, die die Figur erfüllt, das Grauen, die Panik. Aber das war kein Thema, das vor dem Roman klar war und das dieser ausdrücken, behandeln oder mitteilen sollte. Vielmehr suche ich immer, glaube ich, im Schreiben, und generell in der Literatur, Erfahrungen, die ich nicht rein aktiv mache, sondern die mich überfallen und herausreißen aus dem bekannten Leben.
TP
Es gibt auch Erfahrungen des Sehens und die ziehen rein ins Schreiben. Bei Sommer Ende war das etwa eine Szene, in der die Heldin des Buches vom Weg abkommt. Ausgangspunkt in Godards Film ist der berühmte Autostau. Die Kamera fährt dann parallel zur Straße über die gesamte Distanz mit. 10 Minuten lang. Jedenfalls versinkt die Heldin kurz in Gedanken und steigt in ihrer Vorstellung aus dem Auto, um einem Mann auf ein Feld zu folgen. Das ist eine harmonische kleine Szene, in der die beiden in einen romantischen Flow miteinander geraten. Ganz anders als im wirklichen Leben mit ihrem Macho-Mann, der ja erst ihre Eltern und dann sie umbringen will, um an das Erbe zu gelangen. Das ist beim Schauen des Films wie von selbst gekommen. Ich habe mich gefragt, wie ich zu ihr vordringen kann, welche Welt sie hinter sich lassen will und in welcher Welt sie zu sich findet. Diese Szene ist eine von ganz vielen Abschweifungen, wo ich mich selbst in den Film hineinbegeben habe und Erfahrungen gemacht habe, die beim Schauen und dann beim Schreiben entstanden sind.
ML
Diese Abschweifungen sind eine Art Prinzip deines Romans, oder?
TP
Ja, durch diese Abschweifungen entsteht auch eine andere Zeit im Schreiben, im Erzählen. Da wird die Zeit des Films umgewandelt, und es folgt nicht mehr nur das eine auf das andere, die Katastrophe nimmt nicht einfach nur ihren Lauf, sondern die Heldin kann sich selbst retten, auch, wenn das erst mal in ihren Gedanken stattfindet. An einer späteren Stelle wird das auch noch deutlicher. Da betreten sie und ein anderer Mann einen Hohlweg, eine Art mystischen Baumtunnelweg, und es ist, als lösten sich Zeit und Raum auf. Am Ende des Hohlwegs öffnet sich dann in einem bestimmten Moment ein unsichtbarer Durchgang, und in ihrer Wahrnehmung ist das so, als würden sie eine andere Welt betreten. Genau dieser Moment beschreibt die Erfahrung, die ich beim Schreiben mache.
ML
Das klingt auch nach einem Abenteuer. Im Roman ist diese andere Welt aber nicht von Dauer. Denn gleich, nachdem Romy und der Mann aus dem Baumtunnelweg herauskommen und eine erleichternd menschenlose Lichtung betreten, auf der sie aufatmen und für sich sein könnten, für einen Augenblick der Liebe womöglich, da taucht plötzlich erst ein Schlagzeuger auf und gleich danach eine Masse an Menschen in gebatikten Hosen, die sich umgehend als Sadisten und Kannibalen entpuppen. Die Geschichte deines Romans, so mein Eindruck, ist keine mit Realismus-Effekten gebändigte Sicherheitszone, sondern ein verrücktes Spielfeld, auf dem die Chronologie verschwimmt und in wilden Wechseln alles nahezu zugleich geschehen kann, auch Verweise auf zahllose Filme, Musiker und Figuren. Diese Unvorhersehbarkeit erzeugt für mich beim Lesen eine wunderbare Unruhe.
TP
Das verrückte Spielfeld findet bei mir ja in den einzelnen Szenen statt, in der Geschichte, wie du sagst, und auch in der Kombination der Stilmittel oder dem Verändern der Erzählperspektive. Bei dir nehme ich das Spielfeld vor allem in der Sprache wahr. In beinahe jedem Satz. Da wird der Cursor zum »Blinkestab«, da wird eine bettelnde Nachricht zum »Verzweiflungsgewimmer«, da wird eine verschickte Handynachricht zum „Buchstabenschweif“. Deine Sprache ist springlebendig, und dadurch auch deine ganze Art des Erzählens. Die Bilder, die du durch deine Sprache entstehen lässt, machen einfach großen Spaß beim Lesen.
ML
Danke, für das Lob gibt’s einen Euro!
TP
Davon kauf ich mir einen Lolli.
ML
Eben haben wir über den Anfang des Romans gesprochen, jetzt sind wir mittendrin. Unterwegs habe ich oft das Gefühl, der Roman ist ein anschwellender Planet. Je größer er wird, desto stärker wird seine Gravitationskraft. Dann saugt er all die Dinge an, die er braucht, um weiter zu wachsen, Lektüren, Erlebnisse, Stimmungen, Details. Bei meinem zweiten Roman, Der Irrweg, war das besonders ausgeprägt, da habe ich unterwegs überall Dinge entdeckt, die dazugehörten. In Bestsellern über das Gedankenlesen, in Comic-Krimis mit Sammy & Jack oder in Lambert Wiesings Luxusphilosophie. Aus jeder Ecke sind mir Puzzleteile des Romans ins Gesicht gesprungen. Wie war das bei Sommer Ende?
TP
Ich denke, bei mir war es hauptsächlich der Einfluss von Jean-Luc Godard. Als ich seinen Film Week-End vor ein paar Jahren wiedergesehen habe, hat mich der Film ständig dazu veranlasst, ihn anzuhalten, zurückzuspulen und noch mal zu schauen, was da auf dem Bildschirm vor sich geht und warum mich dieser Film, diese Art Kino, diese Art des Erzählens so fasziniert. Bis ich mich dabei ertappte, mich selbst in den Film hineinzubegeben, sozusagen hineinzuschlüpfen, wie Alice ins Wunderland, aus unvorsichtiger, übermütiger Neugierde. Um Erfahrungen und Entdeckungen zu machen. Week-End war einer der ersten Filme, der mir gedankliche und künstlerische Türen geöffnet und Möglichkeiten aufgezeigt hat. Diese brutalen und aggressiven Bilder, die Schnitte, der beinahe ununterbrochen herausfordernde Sound, die ständigen Texteinblendungen, die Kommentare von Godard. Ich habe mich dann in seinem Film umgeschaut, habe beobachtet, worauf die Kamera fokussiert war und dann gerade auch auf das, was nicht im Vordergrund stand, was sich in der Ferne oder abseits des Bildes zutrug, was ich selbst dachte in dem Moment, was ich mir vorstellte.
ML
Das scheint mir das ideale Schauen zu sein, eines, das befreit ist von der Geschichte und offen für das, was sonst unbemerkt im Hintergrund geschieht. War der Film beim Schreiben trotzdem eine Orientierungsgröße, zu der du immer wieder zurückgeschweift bist, oder woran hast du dich orientiert?
TP
Eigentlich immer am Impuls zu einer Szene, aus der dann andere Szenen entstehen. Der Film gibt ja eine Struktur vor, die aus lauter Szenen besteht. Andererseits habe ich dann immer wieder versucht, mich so gut es ging vom Film zu lösen und so eigenständig wie möglich zu erzählen. Und dabei hat die Heldin dann immer mehr an Gestalt gewonnen.
ML
Die Szene ist für mich auch eine zentrale Größe. Aber innerhalb einer Szene, im Grunde fast in jedem Satz, beschäftigen mich Einzelheiten, prickelnde Plastizitäten, Details, die im Kopf kribbeln wie Kohlensäure. Weil sie im Leben, das gewöhnlich als Masse amorpher Einzeldinge vorüberströmt, kaum auffallen würden. In der Literatur ist das anders. Im Lesen wie im Schreiben kann sich die Aufmerksamkeit nadelartig zuspitzen. Was wiederum umschlagen kann in eine verschärfte Wahrnehmung im Alltag. Nach bestimmten Lektüren stelle ich häufig fest, schaue ich genauer. Dann fällt mir alles auf. Beispielsweise, dass sich die traurigen Resthaare meines Kollegen emporrecken, als stünde sein Kopf unter Strom. Dass Wolken wie Säcke aus Seide über den Himmel ziehen. Tausende Dinge, für die ich, wenn ich zweck- und zielgetrieben im Hamsterrad eines Arbeitstages dahintrabe, kein Auge habe. Natürlich ist ein Roman mehr als seine Einzelheiten. Zugleich sind die Einzelheiten mehr als der Roman. Sie streben weg aus der Geschichte, dem Plot oder der Form und führen, aller Funktion zum Trotz, ein funkelndes Eigenleben.
TP
Wie darf ich mir das vorstellen? Etwa so, dass du zu Beginn die Sätze an der kurzen Leine hast, aber schon bald beginnen sie, dich nach links und rechts zu ziehen, dann ziehst du mal stramm, bleibst mal kurz stehen, aber schon wollen die Ideen, Worte, Sätze und Szenen weiter, und dann machst du die Leine los und lässt allem freien Lauf. Dann gibt es in deinem Erzählen kein dummes Lachen mehr, sondern du machst daraus ein »Lach-Archiv mit einer rasseligen Kommissarlache, dem öligen Glucksen eines Charmeurs oder einem idiotisch ironischen Hexengekicher«.
ML
Tendenziell schon, aber die Sprache dreht natürlich nicht einfach funktionslos frei und durch. So ist beispielsweise das »Lach-Archiv«, das du erwähnst, nicht bloß irgendeinem willkürlichen Originalitätsgehuber geschuldet, sondern ein sehr bestimmter Begriff, den Wolfram benutzt, der neue Liebhaber der Mutter meiner Heldin, ein anstrengender Schauspielertyp, der sich ständig irgendeine einstudierte Theaterlache aus dem Hals quetscht, sich also kontrolliert und künstlich verwandelt, anders als Marlies, die sich wirklich und unkontrolliert zu verwandeln beginnt.
TP
Verstehe, aber was hat dich grundsätzlich zu so einer Art Sprache gebracht?
ML
Grundsätzlich geht es mir so: Eine Szene, die aus Sätzen zusammengeklügelt wäre, die keine Eigenart haben, keinen Klang und Bilderschwung, keine Befremdungskraft, aus Sätzen, die nur arbeiten und nicht feiern, die sich übersetzen lassen in andere Sätze, die die gleiche Aussage vermitteln, das wäre nicht das, wonach ich suche. Weil ich ständig das Gefühl habe, dass die Dinge, wenn wir nur mit verschlissenen, ausgeleierten Alltagsbegriffen auf sie verweisen, hinter einer Art Plastikverpackung verschwinden und wie auf Fließbändern an uns vorüberziehen. Wir erkennen sie bloß noch wieder, nehmen sie aber nicht mehr wirklich wahr. Die Gefahr ist natürlich, dass dadurch irgendein artistischer Prosazirkus entsteht, bei dem die Worte und Sätze handlungsarm durcheinandertanzen. Ein fröhlicher Erzählungsverächter hätte damit kein Problem. Mir geht es anders. Ich will ja die Erzählung, diesen schönen Teppich, der abhebt und fliegt, weil er aus Figuren, Dialogen und Handlung zusammengewoben wurde, und natürlich auch aus Urlaub, Liebe und Blutbädern, schließlich ist Die Verwilderung ja ein Horrorsommerferienroman.
TP
Meinst du einen Rhythmus, der Wort für Wort entsteht, und dieser Rhythmus führt dich dann zum Satz, und daraus entwickeln sich Satz für Satz Szenen und dann hast du die Geschichte?
ML
Es geht ja nie nur um irgendeinen Rhythmus, sondern immer vor allem um die Figuren und ihre Verzweiflungsgymnastik. Marlies, zum Beispiel, wird immer panischer, da alle aufgesuchten Rettungsinstanzen, Psychiatrie, Tierarzt, Kirche, Exorzistin, ihr nicht helfen können. Oder wollen. Aber es macht generell immer einen Unterschied, wie ich die Dinge sage. »Ihr war kalt, sie setzte sich in den Sessel und wartete«, ein Satz, den ich hier ungelenk aus dem Ärmel schüttele, ist etwas anderes als das, was beispielsweise Vicki Baum in ihrem Beschreibungskunstwerk »Menschen im Hotel« sagt: »Sie schrumpfte in einem Fauteuil zu einem kleinen fröstelnden Wartebündel zusammen.« Die sprachlich gesteigerte Anschaulichkeit darin scheint mir den Vorgang erst spürbar zu machen. Das ist mir überhaupt die größte Freude, wenn das Erzählen nicht weltgewiss über alle Alltäglichkeiten hinwegschreitet, auf dem Weg zur Aussage, zum Thema, zum Plot, sondern wenn es die Kleinigkeiten wichtig nimmt, so sehr, dass diese plötzlich frisch erscheinen, neu und im besten Falle fremd.
TP
Phänomenaler Satz von Vicki Baum. Öffnet schön die Welt und lässt genügend Spielraum für alles, was folgt. Zur Verzweiflungsgymnastik: Bei Sommer Ende ist das ein bisschen wie im Jazz, wo über Harmonien frei improvisiert werden kann, wo Impulse gesetzt werden, die sich ausweiten, und wenn dann etwas zum Tragen kommt, es auch weiterverfolgt wird, so wie ich in meinem Roman ja auch über Godards Film improvisiere.
ML
Diese literarischen Improvisationen ergeben dann eine ziemlich wilde Gemengelage, oder?
TP
Ja, aber eine, der man gut folgen kann.
ML
Weil es trotzdem eine Geschichte gibt, die man gerne liest.
TP
»Die man gerne liest«, also, für dieses Lob gibt’s aber nur fünfzig Cent.
ML
Davon kauf’ ich mir einen Keks, lasse ihn fallen und trete drauf.
TP
Da fällt mir eine schöne Zusammenfassung meines Buches ein, die ein Kollege geschrieben hat: »Du verballerst ein ganzes Arsenal an modernistischen Normabweichungs- und postmodernen Literaturerweiterungs- bzw. Pastiche-Features, beschwörst einen fast vergessenen Film von Godard herauf, durchmischst die Gattungen Drehbuch und Roman, verschiebst das Ganze inhaltlich und epochal, änderst die Namen der Protagonist:innen, switchst bei der Hälfte in den Ich-Erzählmodus der weiblichen Hauptfigur, dehnst oder brichst verschiedene Konventionen, integrierst Comic-Elemente und wechselt das Tempus. Das, und vor allem deine melancholische Hysterie, macht mir persönlich großen Spaß, irritiert wahrscheinlich aber auch einige Leser:innen.«
ML
Das klingt nicht so, als würdest du mich, wenn ich dein Buch aufschlage, am Küchentisch abholen wollen, also, mit Situationen, die mir vertraut sind, mit anschlussfähigen Begriffen und bekannten Bildern.
TP
Das kommt auch ein bisschen darauf an, was du als Leser mitbringst.
ML
Meinst du im Sinne von Bildung, also, wenn ich beispielsweise Julio Cortázars »Südliche Autobahn« oder auch das Gesamtwerk von Jean Genet nicht gelesen habe, dann verstehe dein Buch nicht?
TP
Nein, es geht nicht um Bildung, sondern um Neugierde und Einlassungsbereitschaft. Wer die mitbringt, für den ist das Buch ein großer Welträtselspaß, bei dem er viele Dinge entdecken kann. Du arbeitest in deinem Buch ja auch an einem Rätsel, der Klaue, die wie aus dem Nichts einer Teenagerin aus dem Finger wächst.
ML
Ja, stimmt, darum ging es mir im Schreiben, ich wollte ein Rätsel erzählen. Aber eines ohne symbolische Auflösung oder alberne Setzung. Also, ohne dass entweder nahegelegt wird, die Kralle meint dies, das, Ananas, oder dass eine Welt entsteht, in der die Menschen auf Besen fliegen können, weil sie es halt können. Nein, ein Rätsel, das seine Unheimlichkeit voll entfalten können soll, muss ein Rätsel bleiben, eines, das man lösen will, aber nicht kann. Dabei hat mich vor allem die Frage interessiert, welche Panik löst so eine Veränderung aus. Was macht das mit mir, wenn ich sehe, wie ich anfange, zu verwildern, mich zu verwandeln, in ein Tier, einen Dämon oder ein Monster. Als diese Panik da war im Kopf meiner Protagonistin, hatte der Roman seine Richtung gefunden. Wie ging das bei dir mit dem Film?
TP
Ich habe den Film beim Schreiben der ersten Fassung auf einem zweiten Monitor laufen lassen. Und nach dieser ersten Fassung habe ich mir den Film überhaupt nicht mehr angesehen, habe nichts überprüft, habe nichts gegengecheckt. Das war, als wäre der Film omnipräsent und würde sich gleichzeitig nach und nach auflösen. Und dann habe ich mit jedem Satz, den ich geschrieben habe, mehr und mehr zur Heldin des Buches gefunden und nach der Filmbeschreibung im ersten Teil des Buches dann im zweiten Teil die Heldin einfach selbst erzählen lassen. Als würde ich ihr Innenleben nach außen stülpen.
ML
Wie würdest du dann das Verhältnis deines Romans zu Godards Film beschreiben? Als Coverversion?
TP
Ich könnte das wie einen Titel mit Untertitel im Stile Thomas Bernhards sagen: »Sommer Ende – Eine Abschweifung.«
ML
Wir haben über den Einstieg in den Roman gesprochen und über die Orientierung darin. Lass uns abschließend überlegen, was nach dem Roman geschieht. Du hast eingangs gesagt, dass du neugierig warst, was du im Schreiben von Sommer Ende über dich herausfindest. Magst du verraten, was genau du herausgefunden hast?
TP
Dazu habe ich ein schönes Zitat von Henri Michaux. »Ich schreibe, um mich zu durchqueren.« Es kommt ja zur Totalkatastrophe im Roman: Ehe der Heldin im Eimer, Mann tot, Eltern tot, Affaire sinnlos, potenzieller Geliebter tot usw. Und durch diese Katastrophe steuere ich sie hindurch, im Team. Am Ende befreit sie sich aus der Katastrophe und beginnt ein neues Leben. Sie hat es geschafft, hat nicht aufgegeben, ist nicht gestorben. Sie hat das getan, was nötig war, und fängt jetzt noch mal an. Das alles könnte eine erfundene Geschichte sein, ich könnte es auch auf mich beziehen, aber vielmehr doch eher auf das Schreiben an sich, den Schreibprozess. Ich habe trotz aller Widrigkeiten »mein« Buch geschrieben, obwohl doch alles gerufen hat: Aufgeben, aufgeben! Ich habe mich in der Geschichte durchquert und bin in einem Stück rausgekommen. Und was hast du herausgefunden?
ML
Ach, vor allem, wie schmerzhaft das Ende sein kann. Bei der Verwilderung habe ich das besonders stark erlebt. Im letzten halben Jahr hatte sich das Schreiben fast in jede freie Minute gedrängt. In die Wege zur Arbeit und zurück, in Mittagspausen und U-Bahn-Fahrten. Dann plötzlich war es vorbei. Ich konnte nicht mehr Marlies sein, konnte nicht mehr in ihren Sätzen wohnen, in den Szenen und die Worte dort rücken wie Möbel.
TP
Ein Roman an sich ist ja auch kein unendlicher Himmel, kein unendlicher Ozean. Er findet irgendwann einen Abschluss und ist zu Ende. Aber das eigene Schreiben hört ja nicht auf, es geht weiter. Das ist mehr als ein Trost, nachdem ein Buch beendet ist.
ML
Guckt bei dir, wenn es auf das Ende zugeht, bereits der nächste Roman um die Ecke?
TP
Ein paar Wochen mache ich dann immer Pause, aber schon wartet eine neue Geschichte, die geschrieben werden will. Wie ist es bei dir, geht es gleich weiter?
ML
Zunächst habe ich festgestellt, dass die wilde blaue Satzversessenheit der frühen Jahre nachgelassen hat. Vielleicht habe ich drei Romane gebraucht habe, um langsam zu erlernen, wie man einen schreibt. Falls man das überhaupt erlernen kann und nicht jedes Mal von neuem anfängt. Den nächsten Roman trage ich auf jeden Fall schon seit Monaten im Kopf mit mir herum und plane ihn. Es geht natürlich um eine Alieninvasion.
TP
Bei mir ist es ein Krimi, bei dem der ganze Mord-und-Totschlag einfach in ein einziges Kapitel kurz vor Schluss geballert wird, und der Rest des Buches ist eine Schmonzette zum Wegzuckeln.
ML
Also richtig schöne Unterhaltungskunst.
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