High Heels und Weltschmerz

Musik | Toms Plattencheck

Seit nunmehr zwölf Jahren schleicht sich der Name Boozoo Bajou in unzählige Gehörgänge. Das passiert wohl weniger durch ihre Alben als durch die schier unübersichtliche Anzahl von Compilations, in deren Beschreibung wohl stets folgende Worte vorkommen: entspannt, chillig, Sonnenuntergang, Lounge Pop… Von TOM ASAM.

Boozoo Bajou - 4Es ist Musik für den Blick nach innen, es ist aber auch Musik, die oft nicht allzu ernst genommen wird. Das dürfte Peter Heider und Florian Seybert, den beiden Franken, die Hinter dem Namen Boozoo Bajou stecken, doch etwas wurmen. Die beiden sind in allererster Linie Fans, Sammler, DJs, Soundfreaks und Produzenten. Ihre Tracks strotzen vor liebevoller Detailarbeit und Kennertum, was sie bei genauem Hinhören doch deutlich unterscheidet von einem Großteil dessen, was vor allem in den 90ern auf den zahlreichen Entspannungsmusik-Zusammenstellungen oft lieblos erschien.
Auf ihrem am 04.04. erscheinenden Album 4 versuchen sie wohl so etwas wie ein Coming of Age über Albumlänge. Ein sich von innen nach außen Bewegen. Weniger der einzelne, wiederverwertbare Einzeltrack zählt hier, als vielmehr der Flow über Albumlänge. Vom nerdigen Produzenten-Werk bewegt sich 4 durch die betonte Beteiligung von »meisterhaften« Musikern nach draußen. Dieses ausgestellte Könnertum von Musikern wie Max Loderbauer oder Ricardo Villalobos weist auch vom Cafe del Mar-Gebrauchswert Richtung »ernstzunehmender« Musik, haben die beiden doch, etwa bei ihrer gemeinsamen Bearbeitung von ECM-Klassikern (RE-ECM) eine ganz andere Zielgruppe anvisiert. Die Elemente Blues, Jazz und Dub sind hier nur noch wager Grundpfeiler, auf dem eine feinziselierte musikalische Landschaft von ambienter Schönheit und »erwachsener« Jazzsensibilität ruht. Herausfordernd oder wirklich neu ist für den Hörer dabei nichts, 4 ist irgendwo zwischen ECM- und Compost– Welt, zarten Dub-Echos und Brian Eno-Verehrung aber doch weit mehr als eine Ansammlung von Stücken, die man für Compilations und Fernsehbeiträge zweitverwerten kann.
Wem das ausgestellte, muckerhafte Erwachsensein dabei nicht stört, kann hier genießen. 4 ist einerseits weiterhin Expedition ins Gehirn (so der Titel eines TV-Dreiteilers, der mit Bazoo Bajou-Musik verziert wurde), andererseits öffnet es gleichzeitig den Blick nach außen. Die Schnittstelle von vergeistigter Innenwelt zu weltlicher Weite ist der am Meeresufer sitzende Mensch mit Blick auf das, was uns das Cover von 4 zeigt.

Thievery-Corporation-SaudadeVon Bazoo Bajou zu Thievery Corporation ist es nicht weit. Letztere haben zum Beispiel den B.B. Track Under my Sensi remixed, der dann auf Compilations wie Lounge for lovers landete; einer Reihe, die mit Models bebildert wird, die sich gerade den Schlüpfer über die hochhackigen Schuhe ziehen, auf amazon.de beworben mit »Der Sommer ist da – Zeit um zu Loungen und das Leben zu genießen!« Dass man das Gefühl hat, Bazoo Bajou wollen sich von so etwas (was ihnen sicher viel Geld einbrachte) etwas entfernen, kann man gut verstehen. Thievery Corporation sind für einen typisch amerikanischen Pragmatismus bekannt, eine Nische perfekt auszufüllen und zu bedienen, solange es geht. Die heißt in dem Fall: Downbeat/ Chillout mit Dub-, Latin und World Music Light Versatzstücken, mal instrumental, mal mit Female Guest-Vocalists.
Das Duo aus Washington DC fokussiert diesen Ansatz etwas und widmet sein neues Album Saudade diesmal ausschließlich der brasilianischen Musik. Saudade ist eine portugiesische Form des Weltschmerzes; der Begriff lässt sich mit »Traurigkeit«, »Wehmut« oder »Sehnsucht« nur vage übersetzen. Nun scheinen uns loungiger Lebensgenuss und Weltschmerz zunächst recht widersprüchlich. In der brasilianischen Musik geht das aber sehr gut zusammen. Was wohl mit dem gegensätzlichen Lebensalltag zwischen Favela und Körperkult, Gewalt und Lebenslust liegt, um unsere Klischees vom riesigen Land der Gegensätze zu bedienen. Jeder Song auf Saudade präsentiert uns eine Gastsängerin: LouLou Ghelichkhani, Karina Zeviani (Nouvelle Vague), die Argentinierin Natalia Clavier und einige mehr. Zusätzliche Gäste sind der U.N.K.L.E. Drummer Michael Lowery, der argentinische Singer/Songwriter Federico Aubele und der brasilianische Percussionist Roberto Santos. Das Ergebnis ist, wie zu erwarten, eine blitzsauber durcharrangierte Hommage an ein spezielles Lebensgefühl und seine musikalische Umsetzung. Ein Album, das hoffentlich viele Hörer dazu bewegt, Bossa Nova Legenden wie Antonio Carlos Jobim oder Joao (und auch: Astrud, Bebel) Gilberto (wieder-)zu entdecken. Chega de Saudade von Jobim gilt übrigens als erster Bossa Nova Song überhaupt.

siriaWir bleiben bei brasilianischer Musik und widmen uns einer regionalen Berühmtheit aus dem Amazonas-Dorf Cametá im Norden des Landes. Mestre Cupijo wurde 1936 in eine Musikerfamilie geboren. Mit Musikern aus dem Orchester seines Vaters gründete er das Jazz Orquestra os Azes do Ritmo, mit dem er die Wurzeln und die Seele regionaler Stile wie Carimbó oder Siriá erforschen wollte. Dabei war er aber Neuerungen gegenüber aufgeschlossen und ließ sich gerne via Radio von den aufregenden Einflüssen der karibischen Regionen inspirieren: Kolumbianischer Son, Merengue aus der Dominikanischen Republik oder der kubanische Son hinterließen Spuren, vor allem aber die Mamba. Auf der programmatisch siriá betitelten Zusammenstellung erhalten wir eine gelungene Einführung in die das Werk des 2012 verstorbenen Künstlers. Dieser ist auch durch Titel für einen von ihm selbst in den 70ern ins Leben gerufenen jährlichen Wettbewerb für Komponisten lokaler Karnevalspolitik in seiner Heimat immer noch musikalisch präsent. Im Zusammenhang mit dieser Musik von Kraft, Spiritualität und purer Lebensfreude zu sprechen, klingt nach Standard-Spruch, ist aber doch wahr. Der mitreißende Beat des Siriá dürfte sicher auch Fans des frühen Ska nicht ungerührt lassen. Wunderbar, tolles Cover auch!

Klumzy Tung - Happy Accidents»Sixteen, clumpsy and shy, I went to London and I…« beginnt der Smiths-Song Half a Person. Eine halbe Portion bzw. Person mag auch der Londoner Klumzy Tung im musikalischen Sinne sein, allzu clumsy (tollpatschig) stellt er sich aber nicht an. Filigrane Instrumentalbeherrschung ist nicht das, was hier im Vordergrund steht. Auch Kris Knibbs aka Klumzy Tung wird wohl nicht der neue Mike Skinner werden, den er mit Sicherheit hoch verehrt. Wie Jamie T oder Cosmo Jarvis haben wir auch mit Klumzy einen hemdsärmlichen, musikalischen Selfmade-Mann vor uns, der den Spaß an (gerne auch doppeldeutiger) Wortakrobatik, mit handgespielten Instrumenten und genremäßiger Durchlässigkeit transportiert. So stellt er etwa im HipHop Track Loyal-Tea die Frage nach Ver- und Misstrauen und wer wohl ein Tässchen loyal tea mit ihm trinke. Counting Sheep ist eine akustische Drum and Bass Nummer mit Reggae Touch, die auch noch einen Hint auf Libertines unterbringt. Das großartige Ant-De-Presents hat es instantly auf die Liste meiner Lieblings-(Beinahe-)Weihnahtslieder geschafft. Happy accidents ist ein toller Name für die Ansammlung entspannter Popsongs voll Humor und Leidenschaft. Das bekommt bei uns einfach so keiner hin.

| TOM ASAM

Titelangaben
Boozoo Bajou: 4 – Apollo/ R&S / Alive
Thievery Corporation: Saudade – ESL Music / Roughtrade
Siriá: mestre cupijo e seu ritmo – Analog Africa / Groove Attack
Klumzy Tung: Happy Accidents – Tiefpaterre Records / tunecore.com

Reinschauen
Dope on a Road to Nowhere – Boozoo Bajou im TITEL-Interview

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