/

Letzte Zuflucht Vatikan

Menschen | Molfenter / Strempel: Über die weiße Linie

JOSEF BORDAT über Arne Molfrenters und Rüdiger Strempels Porträt eines Priesters, der Tausenden das Leben rettete.

weisselinieDie Rolle, welche die Katholische Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus spielte, gehört zu den wohl umstrittensten historischen Forschungsfragen der Gegenwart. Über kaum ein anderes Partikularthema der Kulturwissenschaften ist so viel publiziert worden wie über das Tun und Unterlassen, das Reden und Schweigen, das Wegsehen und Leiden der Kirche unter dem Hakenkreuz.

Ad fontes!

Jenseits von weltanschaulich präjudizierten Einschätzungen, von Verklärung und Verurteilung, ist die genaue Auswertung von Dokumenten immer noch die einzig seriöse geschichtswissenschaftliche Hermeneutik. Die Quellenarbeit hat in den letzten Jahren einiges Erstaunliche zutage gefördert, vor allem hinsichtlich der Rolle des Vatikan im Kontext der Judenverfolgung in Rom.

So musste das gängige Bild von Pius XII. als »Hitlers Papst« (Daniel Goldhagen) schon mehrfach erheblichen Revisionen unterzogen werden, bis nichts mehr blieb vom Zerrbild der rein fiktionalen Projektion eines Theaterstücks aus den 1960ern (Hochhuths »Der Stellvertreter«) und von den sich darauf stützenden populären Darstellungen. Fachautoren wie Hesemann, Dalins, Marchiones, Kurzman, Krupp, von Teuffenbach, O’Shea und Friedländer haben in den letzten Jahren gezeigt, dass Papst Pius XII. den römischen Juden half, wo er konnte, dass er schwieg, wenn er sie sprechend gefährdet hätte, dass der Vatikan Zehntausenden Menschen Zuflucht bot.

Hugh O’Flaherty – der Oskar Schindler Roms

Nun erschien ein weiteres Zeugnis hingebungsvoller Zuwendung zum Nächsten in Not. Arne Molfenter und Rüdiger Strempel erzählen in ›Über die weiße Linie‹ die wahre Geschichte des irischen Priesters Hugh O’Flaherty, der in Rom über 6000 Menschen aus 25 Ländern vor der Gestapo rettete – und damit vor dem sicheren Tod. Keiner hat im Zweiten Weltkrieg als Einzelperson mehr Menschenleben gerettet. Der katholische Priester baute in den Jahren 1943 und 1944 eine Fluchtorganisation auf, die es den Verfolgten ermöglichte, ihren Verfolgern zu entkommen. Der Vatikan spielte dabei als Zufluchtsort eine Schlüsselrolle.

Über die weiße Linie beschreibt diese einzigartige humanitäre Geschichte im Rahmen der Auseinandersetzung O’Flahertys mit SS-Obersturmbannführer Herbert Kappler, dem örtlichen Leiter der Gestapo, der den Priester jagt und mehrfach kurz vor dessen Verhaftung steht. Doch Hugh O’Flaherty kann immer wieder entkommen. Das »Katz-und-Maus-Spiel« in den Gassen der Ewigen Stadt ist der spannende Stoff eines packend geschriebenen Sachbuch-Thrillers, der nie aus den Augen verliert, dass die Privatfehde eingebettet ist in den mutigen Kampf eines entschiedenen Christen gegen Hass und Gewalt, für Liebe und Leben.

Leseempfehlung

Arne Molfenter und Rüdiger Strempel legen einen Text vor, der weit über die lokalen Ereignisse in Rom und auch über die geschichtliche Dimension des Schicksals der alliierten Kriegsgefangenen nach der Kapitulation Italiens hinausweist. Ihr Buch zeigt, dass man es sich mit einer negativen Beurteilung der Kirche in den dunklen Jahren der deutschen Geschichte wirklich nicht zu leicht machen sollte. Es unterstreicht ferner, wie wichtig und wie wirksam Zivilcourage ist – auch, wenn sie scheinbar gegen eine Übermacht ergriffen wird. Und es beweist schließlich, dass auch ein schwieriger Stoff unterhaltsam vermittelt werden kann. ›Über die weiße Linie‹ sei allen empfohlen, die zu dem einen oder anderen dieser Aspekte noch eindrucksvolle Belege wünschen.

| JOSEF BORDAT

Titelangaben
Arne Molfenter und Rüdiger Strempel: Über die weiße Linie
Wie ein Priester über 6000 Menschen vor der Gestapo rettete. Eine wahre Geschichte aus dem Vatikan

Köln: Dumont 2014
272 Seiten. 19,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Free Jazz & Free Space & Impro

Nächster Artikel

Hartz IV – eine veränderte Gesellschaft

Weitere Artikel der Kategorie »Menschen«

Dem Traum folgen

Menschen | Film | Werner Herzog: Eroberung des Nutzlosen Spektakulär wie der Film ›Fitzcarraldo‹ ist auch das Tagebuch von seinen Dreharbeiten 1981. Über zwanzig Jahre später hat es Werner Herzog ruhen lassen und nun erst veröffentlicht: eine Selbsterfahrungstrip, ein Expeditionsbericht von einem Dschungelabenteuer an der Seite des tobsüchtigen Klaus Kinski. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Keine Traumwelt

Autobiografie | Daniel Keita-Ruel: Zweite Chance
Daniel Keita-Ruels Autobiografie Zweite Chance ist alles andere als ein gewöhnliches Buch. Wenn ein junger Mann von gerade einmal 30 Jahren in einem renommierten Verlagshaus eine Teil-Autobiografie (geschrieben vom Journalisten Harald Braun) vorlegt, dann darf man mit Fug und Recht zwischen den Buchdeckeln etwas erwarten, was sich jenseits des Mainstreams befindet, was überhaupt nichts mit der Glitzerwelt der großen Fußballbühne zu tun hat. Von PETER MOHR

Die Schöne und das »Biest«

Menschen | Zum Tod der Schauspielerin Gina Lollobrigida

»Ich habe das Recht, mein Leben bis zum Schluss leben zu dürfen. In meinem Alter verlange ich nur eines: dass sie mich in Frieden sterben lassen! Den Rummel habe ich zu lange mitgemacht! Jetzt meide ich ihn. Deshalb bin ich so gern in Pietrasanta in der Toskana«, hatte die Schauspielerin Gina Lollobrigida erklärt, die im September wegen eines Oberschenkelhalsbruchs bereits im Krankenhaus behandelt werden musste. Von PETER MOHR

Immer noch neugierig

Menschen | Zum 90. Geburtstag von Cees Nooteboom (am 31. Juli) erschien der Band ›In den Bäumen blühen Steine‹

»Manchmal geschieht so etwas, man hat Dinge in aller Unschuld geschrieben, und Jahre später hat ein italienischer Bildhauer sie gelesen und einen Zusammenhang mit dem entdeckt, was er selber macht«, schreibt Cees Nooteboom in seinem jüngst erschienenen Band »In den Bäumen blühen Steine«, in dem er sich mit den Berührungspunkten seiner Gedichte und den Skulpturen des italienischen Künstlers Giuseppe Penone (Jahrgang 1947) auseinandersetzt. Von PETER MOHR