»Sage mir, Muse, die Taten…«

Roman | Maria Lazar: Die Vergiftung

Die Frau als Muse des Künstlers begegnet uns an zahlreichen Stellen der Kulturgeschichte – Charlotte von Stein, Camille Claudel, Alma Mahler-Werfel oder auch Helene Weigel haben zugunsten von Männern auf die eigene Arbeit als schaffende Künstlerin verzichtetet. Die meisten Frauen, die sich um die Jahrhundertwende 1900 trotzdem selbst künstlerisch betätigten, sind mittlerweile marginalisiert als Fußnote der Geschichte. Der Wiener Verlag Das vergessene Buch hat nun den Roman Die Vergiftung der Wiener Autorin Maria Lazar – erstmals 1920 erschienen – neu aufgelegt. Von HUBERT HOLZMANN

LazarMaria Lazars »jugendlicher Ellenbogen, manchesmal rücksichtslos unbefangener Blick, reicher Einfall und behende Kraft im Figuralen« waren es, was Robert Musil in einer Rezension zum Erscheinen Der Vergiftung im Jahr 1920 faszinierte. Und exakt dieser besondere Blickwinkel dieser Wiener Schriftstellerin wirkt auch heute noch ganz aktuell.

Maria Lazar (1895-1948) erzählt von Ruth, einem zwanzigjährigen Mädchen, das das Leben in ihrer Familie kaum erträgt. Ihre verwitwete Mutter wahrt den Schein des großbürgerlichen Lebens, die Geschwister Bernhard und Martha ordnen sich unter und meiden jeden familiären Konflikt. Auf das Prestigedenken und die herrschende doppelbödige Moral in ihrer kleinen Welt reagiert Ruth mit Ausbruchsversuchen.

Bei ihrem Onkel Gustav, einem verhinderten Künstler, findet sie Zuflucht. Hier fühlt sie sich verstanden und lernt Thomas kennen, einen verarmten Aushilfslehrer, der ein philosophisches Buch schreiben will. Ruth fühlt sich zu ihm hingezogen, doch die einfachen Lebensverhältnisse in der Einzimmerwohnung, in der er zusammen mit seiner Mutter lebt, stoßen sie gleichzeitig ab. Sie weist seinen ersten Annäherungsversuch zurück, woraufhin er in eine Art Wahnsinn verfällt, sich komplett aus dem Leben zurückzieht und am Schluss in einer Art Autodafé seinem Leben ein Ende setzt.

Gegen die Erzählkonventionen der Zeit

Maria Lazar erzählt im Roman Die Vergiftung keine herkömmliche Story ihrer Heldin Ruth. Es ist nicht ihre Geschichte, für die sich die Autorin interessiert. Vielmehr beleuchtet Lazar Ruths inneren Seelenzustand, ihre Selbstzweifel, Zerrissenheit und Fremdartigkeit anhand einzelner Erlebnisse, kurzer Szenen, einzelner Bilder. Für Ruths psychische Gespanntheit findet sie passende Bilder. Wie schon im Märchen von Herzog Blaubart wird die verschlossene Tür, »eine braune Holztür, glatt, mit vielen dunklen Flecken. Eine Tür wie sie überall ist, überall ist. Eine Tür –« zum Ausdruck für den Konflikt, zum Hindernis, zur Wand, gegen die sie anrennt, »die sich nie und nie zertrümmern läßt«.

Hier ist kein geschulter tiefenpsychologischer Blick nötig, um das übermächtige »große Andere« zu erkennen. Ruth wehrt sich gegen Regeln, Familienrituale, gesellschaftliche Vorstellungen, provoziert und versucht sich zu befreien. Sie lebt in ihren Geheimnissen, pflegt die Erinnerung an ihren geheimen Liebhaber, einem Freund ihres verstorbenen Vaters. Die Vergangenheit und ihre aktuelle Situation bringt sie nicht zusammen. Beim gemeinsamen Abendessen in der Familie zieht sie sich zurück in ihren Kokon, verweigert die Konversation. In Dialog tritt sie vielmehr mit Erinnerungsgegenständen: »Sie schluckte eilig große, trockene Bissen hinunter und fragte sich nur: Was habe ich? Sie wußte es nicht mehr. Aber als sie in ihr Zimmer trat, schrie der Spiegel seinen Namen. Und sie sah ihr Bild darin, wie sie sich den Schleier vorgebunden hatte…«

Morbider Ästhetizismus

Die Wienerin Lazar hat eine ganz besondere Schreibe. Es sind beinahe chiffrierte Bilder und bedeutungsschwangere Zeichen, die sie in die Welt von Ruth setzt. Diese Bilder implodieren dann regelrecht in Ruths Umgebung: das Bild des Geliebten im Spiegel, die Situation im Chemielabor des Vaters, die Gegenstände in ihrem Zimmer, ihr »Kirschholzkasten« für ihre Kleider und ihr Versteck ihrer Briefe, und auch die Geräusche und der Lärm, die von der Straße heraufdringen, das »grellrot elektrische« Licht, das in ihr Zimmer fällt.

Halt geben da allenfalls die Besuche bei Onkel Gustav, die für Ruth nicht nur eine Auszeit von ihrer Mutter bedeuten. Mit Gustav fühlt sie sich seelenverwandt. Er besitzt das Gespür des Künstlers, den der Alltag nicht kümmert, der wie Ruth den Zustand hinter den Dingen erspürt. Mit ihm spaziert sie durch die »totgesagten« Parkanlagen, »die nächsten Bäume in der Allee standen wie wachsende Ungeheuer, riesengroß, verworren, unankämpfbar… Und er sagte keuchend, kaum hörbar: – Die Blätter faulen im Erdboden, damit die Wurzeln Nahrung bekommen. Die Tiere fressen einander auf. Und die Menschen, Ruth, sind alle Mörder. Aber unsere Nächsten…, das sind unsere nächsten Mörder. Doch das darfst du Mutter niemals sagen!«

Mutters oder Traumes Welt

Entwicklungspsychologisch gesehen versucht sich Ruth von ihrer Mutter abzunabeln, eigene Wege zu gehen, eigene Erfahrungen zu machen. Jedoch springt Ruth nicht vergnügt und unbeschwert ins Leben. Der Tod des Vaters, das überstürzte Ende der geheimen Liebschaft, die abgründige Doppelmoral in ihrer direkten Umgebung zerstören die Sorglosigkeit der jungen Frau. Sie konfrontiert ihre Mutter immer wieder aufs Neue mit sonderbaren Vorstellungen, schockiert die Familie mit ihren Ansichten. Sie hat Kontakte zu Bella, einer Prostituierten. Dadurch steht sie mitten im Leben, schlägt einem zwielichtigen Offizier, der ihr in der Wohnung eines Freundes an die Wäsche will, eine blutige Nase und brüskiert diesen so vor seinem Freund.

Ruths alias Maria Lazars Männerbild scheint dabei von einer idealisierten Heldenverehrung geprägt zu sein, was jedoch nicht ohne eine Spur Selbstironie gesehen wird. Jedenfalls erzählen ihre Liebesträume von einer berührenden Naivität: »Sie wollte Nonne werden. In der Abenddämmerung in niederen Kreuzgängen wandeln und über das Meer schauen und Christus lieben.« Dann wieder schwärmt sie für Napoleon – bemerkenswert ist, wie sie den Korsen mit ganz wenigen Strichen zeichnet –, »der mit gekreuzten Armen über die Menschen gegangen war und sie zertreten hatte. Damals war es, daß Ruth eine Macht über sich fühlte, die sie fausthart in die Knie zwang… Sie wollte nicht lieben, nicht Liebe empfangen, aber unterworfen werden.«

Es ist die Traumwelt, die in Ruths Realität eindringt. Sie sitzt wie gefesselt im Kinosaal, »ihre Schuhe unter dem dunklen Sitz« verborgen, und ist mitten im Film: »Ruth liebte die Milliardärstochter. Liebte den Grafen.« Die Umgebung um sie herum hat »nichts als Abgründe, Löcher, Klüfte, Leersein und Alleinsein« zu bieten und sie »schielte mit dumpfer Wut auf das verkrümmte Ladenfräulein neben sich, das an den Nägeln kaute und schnalzte.« Dieses unmittelbare Zusammentreffen zweier Welten, diese Ambivalenz von Realität und Fiktion schockieren sie. Sie flüchtet aus dem Kino. Als Souvenir an die idealen Traumfiguren, mit denen sie sich identifiziert, wird sie in einem Geschäft ein Stück Parfümseife stehlen, das sie wie einen Schatz in ihrem Zimmer aufbewahrt.

Musik in Wien

Die Traumstimmung im Kino imaginiert ein Kinoorchester, das die Hollywoodwelt von Ruths Sehnsüchten durch eine Klangwelt verstärkt. Alles Walzer, ein paar Takte Puccini! – Musik untermalt die fantastische Szenerie. Im Roman ist Musik allerdings auch ein Zeichen gesättigter Bürgerlichkeit, längst abgewertet als Hintergrundgedudel. So leiert eine Kaffeehauskapelle uninspiriert vor sich hin, spielt die Ouvertüren und Operettenlieder »eintönig und zu rasch«, kann die »müde«, morbide Gesellschaft kaum mehr beglücken. Ein andermal sieht Ruth, wie ein Leutnant die Verlobte seines Freundes am Klavier zu Gassenhauern und frivolen Liedchen begleitet. Dass sich hier eventuell mehr zwischen den beiden anbahnt als nur musikalisches Interesse, vermutet sie wohl zurecht.

Nicht immer stellt Lazar diese Doppelmoral jedoch so direkt zur Schau. Wesentlich subtiler wertet sie die etablierte Hofoper ab. Wagners Musik hält sie für veraltet: »Mutter kam von Lohengrin und war entzückt, wie immer. Sie liebte derbe Romantik und laute Musik. Dann sang sie den Hochzeitsmarsch mit ihrer kräftigen Stimme. Ruth sah sie an wie eine Fremde.« Dass in Ruths Erinnerung an ihren Geliebten auch eine Beethoven-Sonate erklingt, mag eine Widmung der Dichterin an ihre Heimatstadt sein.

Die Zeit läuft ab

Ruths Geschichte wird von Maria Lazar in kurzen Szenen erzählt, die ohne Handlungszusammenhang folgen. Manchmal sind es nur einzelne Gegenstände wie »Die Tür«, das »Mittagessen«, »Geld« oder »Gott«, die als Folie für das Erzählen dienen und Ausdruck von Ruths innerem Erleben geben. Das Fremde in ihr, das Anders-Sein kennt das Mädchen schon als kleines Kind. Unerträglich ist für sie das Leben in der Familie. Mit der Mutter. Ohne den Vater. Ruth kann das Jetzt oftmals nicht ertragen. Die verstreichende Zeit wird zur Qual: »Und die lebendige Uhr hinter ihr zerschneidet die Zeit metallhart.« Die Umgebung rückt für sie in den Hintergrund. Erinnerung wird zum »luftlosen Abgrund. Weite. Leere.« Bilder der Unruhe kriechen aus den Dingen, die sich verzerren.

Der Herausgeber Johann Sonnleitner porträtiert die vergessene Autorin Maria Lazar im Nachwort, erzählt von der Wiener Zeit, den Kontakten zu den berühmten Zeitgenossen, Elias Canetti, Hermann Broch, Alfred Polgar, Frank Wedekind. Er begleitet sie sodann in ihr dänisches Exil, in das sie bereits 1933 vor dem aufkeimenden Nationalsozialismus flieht. Dort trifft sie auf Brecht und Helene Weigel. Nach dem Krieg kehrt sie nicht nach Wien zurück. 1948 beendet sie ihr Leben in Stockholm. Sie leidet an einer unheilbaren Krankheit. Die Vergiftung ist ein moderner Roman. Der skurrile Tagebucheintrag Thomas Manns zu seiner Romanlektüre von Lazars Vergiftung ist für uns Anlass, die Autorin zu lesen: »Ging gestern Abend wieder in den Park, saß zum ersten Mal wieder lesend unter einem Baum. Begann mit einem Roman Vergiftung von Maria Lazar …, lese aber nicht weiter. Penetranter Weibsgeruch.«

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Maria Lazar: Die Vergiftung
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehenen von Johann Sonnleitner
Wien: Das vergessene Buch 2014
168 Seiten, 17,90 Euro

Reinschauen:
| Leseprobe
| Das vergessene Buch in TITEL kulturmagazin

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