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Verrückte Katzen und fliegende Kinder

Comic | Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde

Abseits einer kleinen Nischenszene auf Festivals ist es der Kunstgattung des Comics bislang in Deutschland nicht gelungen, als gleichwertig mit den anderen der sogenannten Hochkultur anerkannt zu werden – anders als beispielsweise in Ländern wie den USA, Frankreich und Belgien. Das möchte der Kurator Alexander Braun gerne ändern und hat eine Comic-Ausstellung in einem renommierten Kunstmuseum konzipiert: ›Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde‹ heißt die Ausstellung, die seit vergangenem Donnerstag und bis zum 18. September in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt am Main besuchbar ist. PHILIP J. DINGELDEY hat sie sich angesehen.

Schirn Presse ComicBraun geht es nicht um die Anfänge des Comics im 19. Jahrhundert, sondern um die Zeit, in der Comics in den USA erstmals in Massenmedien verbreitet wurden. Als Strips oder Wochenendbeilagen in großen Tageszeitungen, also von 1897 bis Mitte der 1940er Jahre. Einzelne Comic-Hefte lösten solche Cartoons erst ab den 1930ern langsam ab. Dazu hat der Kurator sich vor allem sechs Künstler ausgesucht, deren frühe Comicwerke später auch die Topoi und Stilistika ihrer anderen bildenden Kunstwerke beeinflussten. Dabei handelt es sich um Windsor McCay, Lyonel Feininger, Charles Forbell, Cliff Sterrett, George Herriman und Frank King. In sechs länglichen Räumen im zweiten Stock der Schirn Kunsthalle kann man deren Comicwerke nun bewundern, zusätzlich lädt ein Reading Room in der Mitte der Ausstellung zum Schmökern in den Alben der Zeichner ein.

Damit hat sich Braun adäquat die richtigen Zeichner herausgesucht, die auch als bildende Künstler eine hohe Reputation verdienen. McCay etwa ist der Übervater von sehr vielen Gattungen und Stilrichtungen, was seltener beachtet wird. In seinen Comic-Zeichnungen antizipierte er bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Surrealismus, also etwa zwei Dekaden bevor André Breton ›Die Manifeste des Surrealismus‹ schrieb. Auch als Übervater des frühen Comics darf er fungieren. Etwa zeichnete er ab 1905 für die ›New York Herald‹ die Serie ›Little Nemo in Slumberland‹, in der sich im Traum eines Jungen Realität und Fiktion vermischen und er am Ende einer jeden Seite schockiert aufwacht, weil er im Traum zuvor etwa von Elefanten gejagt oder sich in einen Riesen verwandelt hatte. Damit schließt er nicht nur an Sigmund Freuds ›Traumdeutung‹ an, sondern auch an literarische Meisterwerke, wie ›Alice im Wunderland‹. Doch das war McCay nicht genug: Irgendwann machte er aus den Comics Trickfilme und ist ergo der Erfinder des Zeichentricks.

Verfremdete Tintenkleckse

Auch der deutschstämmige Feininger ist gleichzeitig begnadeter Comiczeichner und bildender Künstler, der vor allem das Bauhaus prägte. Seine Karriere begann er aber als Karikaturist und Comiczeichner. Ab 1906 war er für die ›Chicago Tribune‹ tätig und zeichnete dort in der Serie ›The Kin-der-Kids‹ die traumhafte Weltreise von Kindern, die über den Atlantik fliegen, um vor ihrer Tante zu fliehen.

Krazy KatWährend die Werke von Feininger und McCay primär in der Fantasie spielen, liegt das Werk von Sterret näher an der Realität. Beispielsweise sein Opus Magnum ›Polly and Her Pals‹, das von einem Ehepaar und ihrer bildschönen und männerumschwärmten Tochter Polly erzählt. Mit der Zeit geht der Fokus der Narration auf die Eltern über und deren Tücken des Alltags, die Zeichnungen werden sukzessive abstrakter und komplizierter, werden divers überzogen, driften ins Psychedelische und Fantastische, reflektieren und kritisieren damit offener die Realität, als es die reinen Fantasieprodukte von McCay und Feininger tun.

Als Höhepunkt der Austellung darf aber getrost der Raum zu Herriman gelten. Dies ist vor allem seiner Serie ›Krazy Kat‹ zu verdanken, die ein hohes intellektuelles Niveau anschlägt. Zentrum ist die Protagonistin Krazy, eine Katze, die in die Maus Ignatz verliebt ist und der ein Hund als Freund folgt. Aus dieser simplen infantilen Handlung macht Herriman etwas Besonderes. Etwa reden die Fabeltiere im US-amerikanischen Ghetto-Slang, und der Comic ist – vergleichbar mit ›Asterix‹ – angereichert mit politischen und sozialkritischen Implikationen, etwa bezüglich der Diskriminierung der dunkelhäutigen Menschen in den USA. Außerdem werden Metathemen wie Begehren und Sehnsucht humorvoll und reflektiert beleuchtet. Zudem ändert sich ständig der Hintergrund der Zeichnungen auf absurde Weise, obgleich die Charaktere unbewegt bleiben. Ab und an treten auch die Protagonisten in Kontakt mit dem Zeichner, beschweren sich etwa über die mindere Qualität, mit der sie kreiert worden sind oder lösen sich gar in Tintenflecken auf. Mit diesen Verfremdungseffekten antizipierte Herriman dramaturgische Methoden, wie man sie später im epischen oder absurden Theater von Bertolt Brecht oder Samuel Beckett wiederfinden wird.

Die Wahrheit aus dem Mund der Katze

Little NemoWer jedoch glaubt, dass diese liebevollen, mal kritischen, mal vom Alltag ablenkenden Zeichnungen nur für Kinder gedacht oder von minderer Qualität seien, weil sie im Rahmen der Massenmedien für eine breite Leserschaft erschienen sind, der irrt. Tiere und Kinder sind deshalb die Protagonisten der frühen Comics, da diese eher außerhalb der Gesellschaft stehen als Erwachsene und damit – ähnlich dem Hofnarr oder dem literarischen Protagonisten Schweyk – Wahrheiten und kreative Ideen im Witz aussprechen können, ohne Sanktionen zu fürchten. Die Ausstellung in der Schirn Kunsthalle zeigt allen Kunst- und Comicfreunden, dass der Comic seinen Platz in der Hochkultur verdient hat, als eigenständige künstlerisch-intellektuelle Gattung, die emanzipatorisch ein Massenpublikum zum Denken und Genießen einlädt.

Im Laufe der Ausstellung sind noch mehrere Sonderveranstaltungen geplant. Vom 16. bis 19. August findet etwa das Ferienprojekt ›Comics Zeichnen‹ im Schirn statt, vom 23. bis 25. August das Ferienprojekt ›Trickfilm zeichnen‹. Am 30. August und am 18. September führt Alexander Braun selbst durch die Ausstellung, und am 8. September hält der Zeichner Volker Reiche einen Vortrag zu den Nachfahren der hier ausgestellten Kunstpioniere.

| PHILIP J. DINGELDEY
| Abbildungen: SCHIRN KUNSTHALLE FRANKFURT

Titelangaben
Pioniere des Comic. Eine andere Avantgarde
Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (Römerberg, Frankfurt am Main)
23. Juni – 18. September 2016

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