Salut nach 40 Jahren »edition suhrkamp«. Von WOLFRAM SCHÜTTE
Vor 40 Jahren, Anfang Mai 1963 erschienen die ersten Bände der »edition suhrkamp«, bis jetzt kamen rund 2300 Titel dazu, insgesamt wurden 41 Mio. Exemplare der »es« verkauft – und der heutige Kulturbetrieb hätte das Jubiläum (das keines ist, vom Verlag aber zurecht dazu gemacht wurde) gar nicht bemerkt, wenn er nicht vom Hause Suhrkamp durch eine Sammlung von 15 »Klassikern« der Taschenbuchreihe dazu animiert worden wäre. (Nachgeborene könnten mit ihnen nachholen, was einmal zur intellektuellen Grundausstattung gehörte, wenn man etwas zu sagen haben wollte.)
Denn die »es«, die in den Sechziger/Siebziger Jahren nach dem Wort eines ihrer Autoren, nämlich Ernst Blochs, »an den Fronten des Weltprozesses« stand, ist heute, ohne daran selbst schuldig zu sein, im Wust, im Schrott und der unübersehbaren Vielzahl der Taschenbücher (nein:) nicht untergegangen, aber durch den Lärm der Bestsellerei & der Zweit-& Drittverwertung von En-Vogue-Titeln ins Hintertreffen geraten; und gerade von dort aus trifft sie, aus dem Hinterhalt, auf das Interesse der schon von Stendhal so genannten »happy few«, die in der »es« Originaltexte, Originale & Originalitäten suchen & finden: immer noch, immer wieder.
The times they are a-changing: es war einmal anders. Als Siegfried Unseld sowohl mithilfe als auch gegen die Wünsche von Max Frisch, H.M. Enzensberger und Martin Walser das Profil, sprich »die Linie« seiner Buchreihe zum kleinen Preis von damals 3 DM bestimmte und von 1963 an monatlich (!) jeweils 4 Bände der »es« auf den Markt brachte, war diese implizite verlegerische Kritik am deutschen Taschenbuchmarkt der produktivste Motor für Philosophie und Literatur im »Wissenschaftlichen Zeitalter«, das im Band 1 der Reihe Brechts »Galileo Galilei« programmatisch annoncierte: Aufklärung, welche die (intellektuellen) Massen der Studenten ergriff, unterm Regenbogen der Spektralfarben, die der Designer Willy Fleckhaus für das nüchtern-bildlose Outfit der Reihe gewählt hatte. Der »es«-Regenbogen stand in so mancher Wohnung der Sechziger/Siebziger Jahre: als Eingang für eine Zeit des Aufbruchs ins Neue, Andere, Bessere.
Die »es« war mehr als nur die literarisch-politisch-philosophische Begleitmusik (wie die Beatles, die Rolling Stones, Bob Dylan ed al.) der Studentenrevolte und eines Massenphänomens, das proklamierte: »Seien wir realistisch, fordern wir das Unmögliche«. Die »edition suhrkamp« lieferte nämlich die unterschiedlichen geistigen Brennstoffe – ob von Beckett oder Adorno, Benjamin oder Barthes, Wittgenstein oder Bernhard, Bloch oder Enzensberger, Marcuse oder Peter Weiss: eben das, was der historische Augenblick verlangte oder: was ihm seine Signatur einbeschrieb.
Dass mit der Depression der Neuen Linken deren klassisches Spielfeld verwaiste, hat Unseld – gegen Unkenrufe, er schreite zu Grablegung der »es« (und einer der Unkenrufer war ich damals) – dazu bewegt, nach 1000 (!) Bänden 1979 die »es-Neue Folge« neu zu justieren, um ihre Existenz als erschwingliches Unterfutter des philosophisch-politischen und literarisch-essayistischen »Diskurses« der veränderten Gegenwart zu sichern, nachdem mit der Kontinuität relativ hoher Auflagen nicht mehr generell, aber auch nicht mehr kaufmännisch die Reihe zu »rechnen« war. Das verwandelte Überleben der »edition suhrkamp« ist dem Verlag, nach der Gründungs-Ägide von Günter Busch, unter der von Raimund Fellinger gelungen, und es spricht nichts dagegen, dass der eben installierte Alexander Roesler eine Tradition fortsetzen wird, die sensibel vor den Winden des Zeitgeistes zu kreuzen versteht, ohne sich die Segel vom wechselnden Mainstream blähen zu lassen.
Es ist ohnehin erstaunlich – und offenbart, wie intelligent & findungssicher das Lesepublikum und wie borniert die etablierte Kritik und ihr Konformismus ist -, dass sich die »edition suhrkamp« gegen ihre weitestgehende Missachtung bei der publizierenden Kritik: halten konnte. Man könnte sogar behaupten, eine außergewöhnliche Reihe wie die »edition suhrkamp« mit ihren (überwiegend) Erstausgaben lebe, wo sie wirklich »eigen« ist, einzig vom Entdeckerrisiko ihrer Lektoren und allein von der Lust am Spurenlesen ihrer Leser – ohne dass die Kritik dabei ihr Schärflein dazu getragen hätte.
So nostalgisch ein Rückblick auf die einstige maßgebliche Rolle der nun vierzigjährigen »edition suhrkamp« im Zentralpark der Moderne heute auch ausfallen mag – das »Volk der Leser« (Peter Handke) hält sie glücklicherweise immer noch für eine Lebens- und Lesensnotwendigkeit, selbst wenn der einstige Dumpingpreis heute nicht mehr gilt (weil die Auflagen kleiner sind). Es war aber schon (fast) immer etwas teurer, einen besonderen Geschmack zu haben.