Die Katastrophe in der Hochzeitsnacht

Roman | Ian McEwan: Am Strand

Booker-Preisträger Ian McEwan, der zuletzt in seinem Roman ›Saturday‹ (2005) die äußeren Bedrohungen für ein friedvolles Leben authentisch beschrieben hat, widmet sich nun den nicht minder zerstörerischen Einflüssen, die im tiefsten Innern des Individuums ihre Wurzeln haben. Von PETER MOHR

Am Strand 9783257237887 - 750Edward Mayhew und Florence Ponting hatten beste Startvoraussetzungen für ein gemeinsames Leben, doch wie elendig ist das jungverheiratete Paar dennoch gescheitert! An der eigenen Unaufrichtigkeit? An der Sprachlosigkeit? Am verklemmt-muffigen Klima des Englands der frühen 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, als Jungsein noch eine Bürde war, »ein Kainsmal der Bedeutungslosigkeit, ein leicht peinlicher Zustand, der mit der Hochzeit ein Ende fand?«

Edward hatte sein Geschichtsstudium im Alter von 22 Jahren mit Prädikat abgeschlossen, die gleichaltrige Florence studierte Musik und hatte ein beachtliches Talent als Geigerin offenbart. Florences Vater, ein erfolgreicher Unternehmer, hatte dem künftigen Schwiegersohn bereits einen attraktiven Job in seiner Firma angeboten. Edward, Sohn eines Dorfschullehrers, schien am Ziel seiner Träume: Er hatte Florence und auch gute Aussichten auf einen gesellschaftlichen Aufstieg.

Sie liebten einander, aber die Art ihrer Zuneigung basierte primär auf geistigem Konsens; die Körperlichkeit hatten beide – in einer Mischung aus Versagensängsten und Prüderie – bis zur Hochzeitsnacht fast völlig ausgeklammert. Edward fordert mit sanftem Druck nach der Hochzeit in einem Hotel an der Küste von Dorset (am Chesil Beach – so auch der Originaltitel des Romans) den »körperlichen Vollzug der Ehe«. Florence will ihn nicht enttäuschen und willigt ein, wenngleich sie sich eingesteht, dass »Sex mit Edward nicht der Gipfel ihrer Freuden, sondern nur der Preis sein konnte, den sie zahlen musste.«

Verborgene Gefühle

Booker-Preisträger Ian McEwan, der zuletzt in seinem Roman ›Saturday‹ (2005) die äußeren Bedrohungen für ein friedvolles Leben authentisch beschrieben hat, widmet sich nun den nicht minder zerstörerischen Einflüssen, die im tiefsten Innern des Individuums ihre Wurzeln haben.

Beinahe programmatischen Charakter für den gesamten Roman hat McEwans erzählerisches Statement über Florence: »Ihr war es stets leichtgefallen, ihre Gefühle vor der Familie zu verbergen.« Das Paar scheiterte so katastrophal, weil es keine Sprache gefunden hat, um über die eigenen Gefühle zu kommunizieren.

Trotz der gemeinsamen Versagensängste treiben die beiden in der Hochzeitsnacht auf die Katastrophe zu, und plötzlich war Florences dunkles Grauen da, »von einem anderen Körper mit Flüssigkeit bespritzt, mit Schleim überzogen zu werden.« Panische Angst ergriff sie, sie rannte aus dem Hotel zum Strand, von blankem Entsetzen und Ekel gleichermaßen angetrieben.

Dort kommt es dann zum verbalen Showdown. Edward und Florence giften einander an, bedienen sich dabei wüster Beschimpfungen und törichter Schuldzuweisungen. Der Gipfel der gegenseitigen Demütigungen ist erreicht, als Florence Edward (als Versöhnungsversuch) anbietet, sein körperliches Verlangen mit anderen Frauen auszuleben.

Eisig-verklemmtes Schweigen

Ian McEwan erzählt den im Jahr 1962 angesiedelten Roman nicht chronologisch. Immer wieder springt er in die Vergangenheit, berichtet über kleine und große Katastrophen in den Familien Mayhew und Ponting und wie sich das Paar 1959 am Trafalgar Square auf einer Demonstration der Atomgegner kennengelernt hat. Nie hat sich jemand für Florences musikalisches Talent interessiert, nie hat jemand ihre Nervosität und ihre Unsicherheit wahrgenommen, die sich darin äußerte, dass »sie sich mit einer fahrigen Geste eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht wischte.« Die junge Frau (dieser Schluss liegt nahe) wählte einen Weg ins innere Exil – in die Welt der Musik, in der sie als erste Geigerin eines Quartetts im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angeben durfte.

Als erzählerischen Epilog präsentiert McEwan im Steno-Stil Edwards weiteren Lebensweg. Der Historiker schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, kehrt nach dem Tod seiner (seit einem Zugunfall) geistig umnachteten Mutter ins Elternhaus zurück und pflegt seinen an Parkinson leidenden Vater. Im gesetzten Alter resümiert Edward, dass ihm etwas mehr Geduld im entscheidenden Augenblick mit Florence wahrscheinlich ein anderes Leben beschert hätte.

Oft sind es Worte, die eine zerstörerische Wirkung entfachen. In ›Am Strand‹ wird die Katastrophe allerdings durch das eisig-verklemmte Schweigen vor der Hochzeitsnacht ausgelöst. McEwans junge Protagonisten Florence und Edward wären Kandidaten für die Couch von Sigmund Freud.

| PETER MOHR

Titelangaben
Ian McEwan: Am Strand
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Zürich: Diogenes Verlag 2007
207 Seiten, 18,90 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Reinschauen
| Leseprobe

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine Kiste ist eine Kiste ist eine Kiste…

Nächster Artikel

Halskette aus Haaren

Weitere Artikel der Kategorie »Roman«

Zwischen Glaswolle und Gummiknüppeln

Roman | Frank Goldammer: Juni 53

Mit seiner Reihe um den Dresdener Kriminalpolizisten Max Heller hat Frank Goldammer (Jahrgang 1975) es längst in die Bestsellerlisten geschafft. Band 5 heißt Juni 53 und spielt mit seinem Titel auf die Tage der Arbeiterproteste in der DDR an. Auch in Dresden gehen aufgebrachte Werktätige auf die Straße. Man protestiert gegen kaum erfüllbare Produktionsnormen, Versorgungsengpässe und eine Regierung, die ihre Direktiven gnadenlos nach unten durchdrückt und vor der bedrückenden Realität die Augen verschließt. Dass der brutale Mord im VEB Rohrisolation, den Heller und sein Kollege Oldenbusch aufklären sollen, etwas mit den am 17. Juni in vielen Städten in Gewalt umschlagenden Aufständen zu tun hat, steht für einen mitermittelnden Stasi-Offizier schnell fest. Doch Max Heller verfolgt eine andere Spur. Von DIETMAR JACOBSEN

Der alte Herr Updike lässt grüßen

Roman | Michael Kleeberg: Vaterjahre Da ist er wieder, der bieder-selbstzufriedene Langweiler Charly (Karlmann) Renn aus Michael Kleebergs Roman Karlmann  (2007). Den »Karlmann« aus den 1980er Jahren, auf diesen altfränkischen Vornamen hatte ihn sein hanseatischer Vater einst taufen lassen, hat Renn längst hinter sich gelassen. Er ist älter geworden, hat das von seinem Vater geerbte Autohaus versilbert, ist in zweiter Ehe mit einer fürsorglichen Ärztin verheiratet und inzwischen Vater von zwei Kindern. Nun legt Michael Kleeberg den neuen Roman ›Vaterjahre‹ vor. Von PETER MOHR

Raus aus dem Stedtl

Debüt | Thomas Meyer: Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse Mit seinem witzigen Debüt Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse leistet der Schweizer Thomas Meyer nicht nur einen Beitrag zur Verständigung zwischen den Religionen. Er gibt vor allem ein kurioses Beispiel für die Anziehungskraft zwischen Männern und Frauen. Meyer erzählt hier die Geschichte eines jungen orthodoxen Juden, der sich trotz mütterlicher Überwachung auf der Suche nach seiner eigenen Identität macht. Und wie immer bewahrheitet sich die Weisheit: Der Weg ist das Ziel. Von HUBERT HOLZMANN

Wie ein Wirbelwind

Roman | Carlo Lucarelli: Laura di Rimini

Schnallen Sie sich an und machen Sie sich in Carlo Lucarellis neuem Roman auf ein atemberaubendes Tempo gefasst. Rät BARBARA WEGMANN

»Das Land der unsichtbaren Verbotsschilder«

Roman | Ina Raki: In einem Land vor meiner Zeit Leben als Jugendliche in der ehemaligen DDR des Jahres 1984, aber mit dem Wissen einer Jugendlichen von heute – auf dieses erzählerische Abenteuer hat sich Ina Raki eingelassen und damit einen überzeugenden Roman jenseits aller Ostalgie und DDR-Romantik erschaffen. Von BEATE MAINKA