Booker-Preisträger Ian McEwan, der zuletzt in seinem Roman ›Saturday‹ (2005) die äußeren Bedrohungen für ein friedvolles Leben authentisch beschrieben hat, widmet sich nun den nicht minder zerstörerischen Einflüssen, die im tiefsten Innern des Individuums ihre Wurzeln haben. Von PETER MOHR
Edward Mayhew und Florence Ponting hatten beste Startvoraussetzungen für ein gemeinsames Leben, doch wie elendig ist das jungverheiratete Paar dennoch gescheitert! An der eigenen Unaufrichtigkeit? An der Sprachlosigkeit? Am verklemmt-muffigen Klima des Englands der frühen 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, als Jungsein noch eine Bürde war, »ein Kainsmal der Bedeutungslosigkeit, ein leicht peinlicher Zustand, der mit der Hochzeit ein Ende fand?«
Edward hatte sein Geschichtsstudium im Alter von 22 Jahren mit Prädikat abgeschlossen, die gleichaltrige Florence studierte Musik und hatte ein beachtliches Talent als Geigerin offenbart. Florences Vater, ein erfolgreicher Unternehmer, hatte dem künftigen Schwiegersohn bereits einen attraktiven Job in seiner Firma angeboten. Edward, Sohn eines Dorfschullehrers, schien am Ziel seiner Träume: Er hatte Florence und auch gute Aussichten auf einen gesellschaftlichen Aufstieg.
Sie liebten einander, aber die Art ihrer Zuneigung basierte primär auf geistigem Konsens; die Körperlichkeit hatten beide – in einer Mischung aus Versagensängsten und Prüderie – bis zur Hochzeitsnacht fast völlig ausgeklammert. Edward fordert mit sanftem Druck nach der Hochzeit in einem Hotel an der Küste von Dorset (am Chesil Beach – so auch der Originaltitel des Romans) den »körperlichen Vollzug der Ehe«. Florence will ihn nicht enttäuschen und willigt ein, wenngleich sie sich eingesteht, dass »Sex mit Edward nicht der Gipfel ihrer Freuden, sondern nur der Preis sein konnte, den sie zahlen musste.«
Verborgene Gefühle
Booker-Preisträger Ian McEwan, der zuletzt in seinem Roman ›Saturday‹ (2005) die äußeren Bedrohungen für ein friedvolles Leben authentisch beschrieben hat, widmet sich nun den nicht minder zerstörerischen Einflüssen, die im tiefsten Innern des Individuums ihre Wurzeln haben.
Beinahe programmatischen Charakter für den gesamten Roman hat McEwans erzählerisches Statement über Florence: »Ihr war es stets leichtgefallen, ihre Gefühle vor der Familie zu verbergen.« Das Paar scheiterte so katastrophal, weil es keine Sprache gefunden hat, um über die eigenen Gefühle zu kommunizieren.
Trotz der gemeinsamen Versagensängste treiben die beiden in der Hochzeitsnacht auf die Katastrophe zu, und plötzlich war Florences dunkles Grauen da, »von einem anderen Körper mit Flüssigkeit bespritzt, mit Schleim überzogen zu werden.« Panische Angst ergriff sie, sie rannte aus dem Hotel zum Strand, von blankem Entsetzen und Ekel gleichermaßen angetrieben.
Dort kommt es dann zum verbalen Showdown. Edward und Florence giften einander an, bedienen sich dabei wüster Beschimpfungen und törichter Schuldzuweisungen. Der Gipfel der gegenseitigen Demütigungen ist erreicht, als Florence Edward (als Versöhnungsversuch) anbietet, sein körperliches Verlangen mit anderen Frauen auszuleben.
Eisig-verklemmtes Schweigen
Ian McEwan erzählt den im Jahr 1962 angesiedelten Roman nicht chronologisch. Immer wieder springt er in die Vergangenheit, berichtet über kleine und große Katastrophen in den Familien Mayhew und Ponting und wie sich das Paar 1959 am Trafalgar Square auf einer Demonstration der Atomgegner kennengelernt hat. Nie hat sich jemand für Florences musikalisches Talent interessiert, nie hat jemand ihre Nervosität und ihre Unsicherheit wahrgenommen, die sich darin äußerte, dass »sie sich mit einer fahrigen Geste eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht wischte.« Die junge Frau (dieser Schluss liegt nahe) wählte einen Weg ins innere Exil – in die Welt der Musik, in der sie als erste Geigerin eines Quartetts im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angeben durfte.
Als erzählerischen Epilog präsentiert McEwan im Steno-Stil Edwards weiteren Lebensweg. Der Historiker schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, kehrt nach dem Tod seiner (seit einem Zugunfall) geistig umnachteten Mutter ins Elternhaus zurück und pflegt seinen an Parkinson leidenden Vater. Im gesetzten Alter resümiert Edward, dass ihm etwas mehr Geduld im entscheidenden Augenblick mit Florence wahrscheinlich ein anderes Leben beschert hätte.
Oft sind es Worte, die eine zerstörerische Wirkung entfachen. In ›Am Strand‹ wird die Katastrophe allerdings durch das eisig-verklemmte Schweigen vor der Hochzeitsnacht ausgelöst. McEwans junge Protagonisten Florence und Edward wären Kandidaten für die Couch von Sigmund Freud.
Titelangaben
Ian McEwan: Am Strand
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Zürich: Diogenes Verlag 2007
207 Seiten, 18,90 Euro
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