Ein berückender Entwicklungsroman

Roman | Jean-Michel Guenassia: Der Club der unverbesserlichen Optimisten

»Ich ziehe es vor, als Optimist zu leben und mich zu irren, denn als Pessimist zu leben und immer Recht zu haben.« – Der französische Autor Jean-Michel Guenassia debütiert als Romancier mit dem bereits in Frankreich preisgekrönten Roman Der Club der unverbesserlichen Optimisten. Eine gelungene Mischung aus französischem Charme und Intellektualismus mit einer Prise Kitsch und einer Spur Skurrilität – findet HUBERT HOLZMANN.

Jean-Michel Guenassia beginnt mit einem Paukenschlag: der Beerdigung Jean-Paul Sartres im April 1980 auf dem Friedhof Montparnasse. Sie bedeutet das Ende einer Epoche. Auch der Held der Geschichte, Michel Marini, nimmt wie viele Tausende anderer Franzosen daran teil und begegnet auf dem Heimweg einem früheren Bekannten, dem Exil-Tschechen Pavelo Cibulka. Von hier aus folgt der erneute Rückblick ins Jahr 1959, dem ursprünglichen Beginn der Erzählung.

Die eigentliche Geschichte fängt zunächst ganz gewöhnlich an: Im Jahr 1959 feiert der 12-jährige Michel Marini seinen Geburtstag. Aus diesem Anlass haben sich die beiden Familienteile eingefunden, mütterlicherseits die Delaunays, aufstrebendes Bürgertum, väterlicherseits die Marinis, eine ursprünglich aus Italien eingewanderte Arbeiterfamilie. Der Riss in der Familie wird schnell spürbar. Unverständnis, Ablehnung, Familienstreitigkeiten, schließlich die Trennung der Eltern bestimmen den Alltag des Jungen. Der jedoch beobachtet vor allem: »Mit ihren Kämpfen hatte ich nichts zu tun.« Michel funktioniert, ist unauffällig und zieht sich in seine Welt aus »Rock’n’roll, Literatur, Fotografie und Tischfußball« zurück. Also alles normal?

Michel hält sich an seinen älteren Bruder Frank, begleitet ihn tagsüber oft in Cafés und Bistros. Zum Kickerspielen. Dort im Bistro Balto im 14. Bezirk stößt er in einem Hinterzimmer auf den »Club der unverbesserlichen Optimisten«. Fünf Jahre lang, bis zu seinem Schulabschluss, wird dieser Zirkel von älteren Männern seine zweite Heimat werden. Hier findet er Halt, als er vom Tod seines Freundes Pierre erfährt, der als Freiwilliger im Algerienkrieg fällt, hier verarbeitet er den Rauswurf seines Bruders – der Grund für die Heirat der Eltern – aus der Familie.

Sartre und Chruschtschow

Die eine Handlungsebene also im Stil eines klassischen Entwicklungsromans. Michel wird auf wichtigen Stationen bis zu seinem Abitur begleitet, er macht erste Erfahrungen in politischen Diskursen, lernt Höhen und Tiefen von Freundschaft kennen, die erste Liebe. Der »Club« ist dabei pädagogischer, väterlicher Begleiter, eine Art »Turmgesellschaft«. – Das ist das eine. Guenassia schreibt aber auch einen Zeitroman: Ungarnaufstand, Mauerbau, Chruschtschows Sturz.

Viel Gewicht erhält der Algerienkrieg. Ein Teil der Familie Delaunay lebt in Algerien und verlässt das Land nach dem Votum für die Unabhängigkeit. Für die Familie nicht nur ein finanzielles Desaster. Das Trauma Algerien kulminiert auch im engsten familiären Kreis: Frank, Michels Bruder, der sich zunächst freiwillig für den Algerienkrieg meldet, desertiert aus der Armee und wird des Mordes an einem Offizier angeklagt. Nach ihm wird gefahndet, er flüchtet mithilfe des Vaters nach Südamerika. Die Mutter kündigt die Ehe auf.

In den Algerien-Passagen bezieht Guenassia deutliche politische Position und verlangt Aufarbeitung jüngster französischer Geschichte. Der »Prix Goncourt des lycées» wird ihm daher 2009 nicht zufällig von französischen Oberschülern verliehen. Denn es ist faszinierend und auch lehrreich zu lesen, mit welchem Engagement die damalige Opposition kämpfte, auf welch dünnem Eis sie sich bewegte. Das »Erschießt Sartre!« der Militärs, das von ihm mit unterzeichnete Manifest 121, das sich gegen die Verurteilung der Kriegsdienstverweigerer im Algerienkrieg richtete, sowie die Bombenexplosion 1962 in Sartres Wohnung sind Fixpunkte des Idealismus.

Sehr liebevoll dann auch Michels Begegnung mit Sartre im Club: »Er lächelte mich an. Ich wagte nicht, ihm zu sagen, dass wir etwas gemeinsam hatten, und ihn als ehemaligen Schüler von Henri IV anzusprechen. Ich wollte etwas Originelles von mir geben. Nur wusste ich nicht, was. Wie konnte man Jean-Paul Sartre gegenüber intelligent sein?« Sehr intim werden auch Sartres Gedanken zu Camus’ Tod einmontiert und in Szene gesetzt: Sartre lässt im Club einige Skizzen und Entwürfe liegen, in denen zum Erstaunen der Mitglieder dessen Verbundenheit mit Camus zum Ausdruck kommt.

Jean-Paul Sartre ist – wie auch der Autor der Belle du Jour, Joseph Kessel – hin und wieder Besucher des »Clubs der unverbesserlichen Optimisten«. Der Club im Hinterzimmer des Bistro Baltos ist der Versammlungsort für Emigranten »aus Ländern im Osten«, die trotz aller furchtbaren Erfahrungen mit dem Kommunismus, den Säuberungen, den familiären Katastrophen Optimisten geblieben sind. Hier versammeln sich alle Arten von Exilanten und Außenseiter beim Schachspiel: »Juden, Querköpfe, Intellektuelle, Schachspieler«. Dieses sonderbare Kabinett wird nicht bewegt vom Rock’n’Roll, von Science-Fiction und aufkeimender Jugendkultur, hier lebt die Kommunismus-Debatte der Sowjets erneut auf. Einige haben längst damit gebrochen, andere klammern sich nostalgisch daran fest.

Geschenkte Augenblicke

Eine Serie von eigenwilligen Zu- oder Unfällen wird für Michel bedeutungsvoll: Da ist natürlich bereits der erste Unfall: die Verbindung der Eltern. Kein bloßer Zufall ist auch Michels Entdeckung der »geheimnisvollen Tür«, die keinen seiner Fußballkumpels interessiert. Mehr zufällig wird Michel auch zum Verwahrer von Pierres Plattensammlung, als dieser seinen Kriegsdienst in Algerien antritt. Er vermittelt dadurch gleichzeitig die Beziehung zwischen seinem Bruder Frank und Pierres Schwester Cécile. Bedeutungsgeladen auch der Ort für Treffpunkte: der Médici-Brunnen im Jardin du Luxembourg. Ein Ort der Begegnung, der Entdeckung, ein Ort des Körperlichen. Hier macht er mit seiner Kodak Brownie, einem Geschenk von seinem Vater, zahlreiche Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Cécile.

Hier begegnet er dem geheimnisvollen Sascha, der ihm zunächst als Fotograf wichtige Tipps gibt. Die kurze Freundschaft mit Sascha wird für Michels Leben entscheidend. Ein weiterer »Fall« dann die Begegnung mit Camille, seiner ersten Liebe. – Auslöser für den »Zusammenstoß«: Michels Gewohnheit im Gehen zu lesen. »Geschichten müssen irgendwann beginnen. Die unsere lief ab wie im Stummfilm. Wir lagen uns einen Moment gegenüber und versuchten zu verstehen, was uns passiert war… Wir brachen beide gleichzeitig in Lachen aus. Das war unsere Visitenkarte.«

Eva Moldenhauer rettet den französischen Esprit auch in der deutschen Übersetzung, die Wortkraft und der musikalische »Beat« von Guenassia werden genial transponiert. Am Ende – Rückschläge. Kein Happy End. Zahlreiche Lebensirrtümer und trotz allem: »Nach Saschas Beerdigung wurde das Wetter schön, und der Sommer begann.« Ein Buch voll von ungebrochenem Optimismus. Manchmal auch sentimental. Ein wunderbarer Schmöker.

| HUBERT HOLZMANN

Titelangaben
Jean-Michel Guenassia: Der Club der unverbesserlichen Optimisten
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer
Berlin: Insel 2011
688 Seiten. 24,90 Euro
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