Trennung, Schmerz & Katastrophe

Film | Asghar Farhadi: Nader und Simin

Das iranische Kino, das schon so viele großartige Künstler hervorgebracht hat, deren Œuvre die engen, zensoralen Grenzen des Staates auf die erstaunlichsten Weisen gesprengt & transzendiert hat, gehört nach wie vor (und auch in Zeiten verstärkter Repression) zu den großen Kinematographien der Welt. Asghar Farhadis ›Nader und Simin‹ beweist es. Von WOLFRAM SCHÜTTE

Nader und SiminIn Abbas Kiarostamis Spielfilm ›Ten‹, der nur in einem SUV spielt, mit dem eine junge Frau kreuz & quer durch Teheran fährt, wirft ihr arroganter Sohn, den sie gerade von dessen Vater für ein Wochenende bei sich übernommen hat, der Mutter am Steuer vor, sie habe damals gelogen, als sie vor dem Scheidungsrichter behauptet hatte, der Vater nehme Drogen – nur um sich von ihm trennen & ihr eigenes Leben führen zu können.

Vor einen Scheidungsrichter beginnt nun Asghar Farhedis diesjähriger ›Berlinale‹-Gewinner ›Nadar und Simin. Eine Trennung‹. Zu dieser oder einer anderen Lüge greift Simin nicht, um vor einem Scheidungsrichter die Trennung von Nader, ihrem Mann, zu erwirken. Sie erklärt offen, dass sie mit ihrer Tochter das Land verlassen wolle, um dem Schulmädchen einmal »eine bessere Zukunft« zu ermöglichen. Anderthalb Jahre hat sie sich um diese Chance bemüht, in 40 Tagen läuft das Visum ab. Die Zeit drängt. Nader aber weigert sich, mit ins Ausland zu gehen, weil er sich um seinen dementen Vater kümmern müsse.

Frontal argumentieren die beiden in die Kamera – als säße man als Zuschauer an der Stelle des Richters, den man aus dem Off nur hört. Man wird im Verlauf des Films mit Notwendigkeit in die Geiselhaft dieser richterlichen Position genommen. Daraus erwachsen sowohl die moralisch herausfordernde Intensität als auch die erzählerische Spannung von ›Nadar und Simin‹, der einen in seinen Bann schlägt wie ein Suspense-Thriller von Hitchcock.

Subversion durch akribischen Realismus

Der iranische Film – in dem nicht nur die beiden Titelhelden, sondern auch alle anderen, die mit ihnen zu tun bekommen, in ihren Trennungs-Strudel gezogen werden – gleicht aber (erst recht für einen »westlichen« Zuschauer) vielmehr einem Abenteuerfilm, der die gegenwärtige iranische Gesellschaft als sein ereignisreiches Darstellungs-Gelände durchstreift und dabei auf ungemein differenzierte Weise eine soziale und ethische Tragödie transparent werden lässt. Unter der Zensur taucht ›Nadar und Simin‹ mit Bravour hindurch, weil Drehbuchautor & Regisseur Farhadi die »versteinerten Verhältnisse« dadurch zum Tanzen bringt, dass er ihnen von A bis Z ihre eigene Melodie vorspielt.

Brecht hätte bei diesem Stoff von einem »soziologischen Experiment« gesprochen. Aber von dessen schematischer Versuchsanordnung ist Farhadis ungemein motivreicher, konsequent realistischer Film, der seinen Ent- & Verwicklungen als multiple Kettenreaktionen individueller & kollektiver Prozesse darbietet, meilenweit entfernt. Es ist der Realismus, der diese Geschichte einer Trennung subversiv macht.

Die Ehe wird nicht geschieden. Simin verlässt daraufhin die gemeinsame Wohnung & zieht zu ihren Eltern. Ihre Tochter Termeh aber bleibt beim Vater (womit der Emigrationsgrund hinfällig wird) und Nader, der als Bankangestellter tagsüber arbeiten muss, sucht eine Pflegerin für seinen dementen Vater, denn auch Termeh ist ja tagsüber in der Schule. Eine Freundin seiner Frau vermittelt ihm Razieh – deren arme, strenggläubige Schwägerin aus einem weit entfernten Stadtteil, die wegen des weiten Wegs vergeblich bei Nader um eine bessere Bezahlung feilscht.

Was bislang als ein Krisenfall im bürgerlichen Milieu begann, weitet sich nun zu einem dramaturgisch meisterhaft ausgreifenden Gesellschaftsporträt, das immer subtilere, verborgene, komplexe Einblicke in den iranischen Alltag eröffnet und in immer neuen Wendungen das tragische Geschehen bis zur Katastrophe vorantreibt.

Die epische Souveränität des Drehbuchautors & Regisseurs Asghar Farhadi erschafft eine Äquilibristik der widersprüchlichen Motive, Handlungsweisen & Ansichten aller in das aus Wahrheit, Verschweigen und Lüge immer dichter gezogene Netz verstrickten Personen. Der Zuschauer, durch die sowohl scheinbar lückenlos & folgerichtig als auch unvorhersehbar entfalteten Weiterungen der Handlung unter einem permanenten Spannungs-Strom gehalten, muss im Verlauf des zweistündigen Films seine Ansichten, Sympathien & Antipathien mehrfach neu justieren. Es ist ein ethisch-moralisches Wechselbad der Gefühle & Urteile, in das einen dieser Film stürzt, indem er seine Zuschauer der Kasuistik einer gesellschaftlichen Lebensbeobachtung aussetzt, die er durch eine laufende Motivanreicherung immer komplexer werden lässt.

Denn mit Razieh in ihrem schwarzen Tschador – Simin & ihresgleichen »Bürgerliche« tragen nur ein Kopftuch – betritt die religiös codierte Frau & mit ihrem verbitterten Ehemann, dem arbeitslosen Schuster Hodjat, das ausgepowerte Großstadt-Proletariat die Szene des Films. Zugleich mit der Akzentuierung des Klassenkonflikts, der fortan die daraus entstehenden Auseinandersetzungen aggressiv grundiert, kommen nun auch der Zwangscharakter des »Gottesstaates« & seiner drakonischen Verbote in Sichtweite.

Raffiniertes Bürgertum setzt proletarischen Empörer matt

Als der an Alzheimer erkrankte Vater inkontinent wird, muss Razieh beim Imam anrufen, ob sie ihn waschen & säubern darf. Einmal wohl ist es keine Sünde. Deshalb aber will Razieh ihre Stelle bei Nader kündigen und bietet an, ihren Mann Hodjat an ihrer Stelle zu schicken. Allerdings dürfe der nie erfahren, dass sie hier – in der Wohnung eines fremden Mannes – gewesen sei. Zwar stellt sich am nächsten Tag Hodjat auf der Bank ein: Während Nader ein Geldbündel in der Hand hält, spricht er durch das Trennglas mit dem peinlichen Besucher an seinem Arbeitsplatz, der versichert, den Demenzkranken »wie seinen eigenen Vater« zu behandeln.

Soweit wird es jedoch nicht kommen. Im Gegenteil.

Durch die Verknüpfung unvorhersehbarer Umstände & Ereignisse, die Asghar Farhadi mit der Stringenz eines griechischen Tragikers seinem Drehbuch einschreibt, streiten bald beide Familien vor Gericht darüber, ob Nader ein Mörder ist, weil er wusste, dass Razieh schwanger war, als er sie aus seiner Wohnung warf & sie daraufhin ihr Kind verlor; oder ob er von ihrer Schwangerschaft nichts ahnte & sie zurecht »unsanft« vor die Tür setzte, weil er seinen Vater bewusstlos auf dem Boden & ans Bett gefesselt vorfand & Razieh die Wohnung verlassen hatte.

In diesem vorletzten »Akt« seines iranischen Dramas sind es die Kinder der beiden Familien, die entgegen den sich in Lügen, Starrsinn & Zorn verstrickenden Eltern sanft, eindringlich & mutig nach der jeweiligen Wahrheit fragen oder sie sogar aussprechen.

Schließlich gelingt es Simin, mit Raziehs Familie eine »Blutgeldzahlung« zu vereinbaren, was einer außergerichtlichen Beilegung des Gerichtsverfahrens entspricht. Der verschuldete Hodjat stimmt so widerwillig zu wie Nader, der seiner Tochter zwar gestanden hat, dass er von Raziehs Schwangerschaft wusste, sich aber immer noch unschuldig fühlt. Vermutlich hat er aber von Simin erfahren, dass Raziehs Tochter ihr verraten hat, warum ihre Mutter eine Ärztin aufgesucht hatte, als sie den Demenzkranken an seinem Bett gefesselt hatte. Sie hatte Bauchschmerzen, nachdem sie angefahren worden war, als sie am Tag zuvor den aus der Wohnung gelaufenen Alten von der viel befahrenen Straße geholt hatte. So erklärt sich auch im Nachhinein, warum sie an diesem Tag auf der Heimfahrt im Bus zusammengebrochen war.

Heimtückisch kann deshalb Nader im letzten Augenblick seinen Trumpf ziehen: Er verlangt von der tiefgläubigen Razieh, dass sie, bevor er den Blutgeld-Scheck übergibt, in Anwesenheit aller an der Zeremonie Teilnehmenden, auf den Koran schwört, einzig seine Tätlichkeit sei die Ursache ihrer Fehlgeburt. Das kann & will sie nicht – selbst wenn sie daraufhin ihr verzweifelter Mann schlägt, der die Hoffnung begraben muss, mit dem Scheck seine Schulden begleichen zu können.

War es dieses perfide finale Zusammenspiel von Simin & Nader, mit dem nun auch die Ehe von Razieh & Hodjat zerstört wurde, das Termeh zu ihrer radikalen Entscheidung motiviert? Nachdem Nader und Simin ihre Trennung endlich erreicht haben, warten sie im Gericht, jeder an seinem Platz, auf die Entscheidung ihrer Tochter, mit wem sie künftig zusammenleben möchte. Termeh aber kommt nicht. Sie verschmäht beide Teile ihrer Eltern.

Auch eine allegorische Lesart ist möglich

Das ist ein absolut bitterer Schluss – für eine Ehetrennung, die zu einer ausgreifenden Tragödie erst in ihrem Verlauf wird. Aber dieses irreale Ende – denn diese Freiheit von den Eltern dürfte sich kein elfjähriges Schulmädchen in Iran erlauben – weist auf eine zweite, symbolisch-allegorische Ebene hin, die dem Film einbeschrieben ist. Sie tritt an einer Stelle des Dialogs z. B. dort hervor, wo Nader seiner Frau Simin vorwirft, sie habe nie genug Geduld & Ausdauer aufgebracht, um sich Schwierigkeiten zu stellen und suche zu schnell die Flucht. Diese Grundsätzlichkeit schießt über das von der dramaturgischen Situation Erforderliche hinaus.

So kann man mit Fug & Recht in ›Nader und Simin‹ auch eine komplexe Reflexion über die akute Frage von Emigration & Ausharren, von Zukunftsprojektionen & Sorgeverpflichtungen, von Aufrichtigkeit & Ausreden, von Wahrheit & Lüge im gegenwärtigen Iran sehen; und in den Personen – vom dementen Vater bis zur beobachtenden Tochter Termeh – könnte man allegorische Verkörperungen gesellschaftlicher (Alters-)Gruppen und sozialer Klassen & Mentalitäten erkennen. Was dem Film eine weitere Dimension seiner poetischen Qualität verschafft.

Aber dass Nader und Simin erst auf einen zweiten Blick diese Lesart wahrscheinlich werden lässt, liegt an einer Qualität, von der bisher noch gar nicht die Rede war, die aber – neben der schlüssigen Dramaturgie – Asghar Farhadi auf der Höhe seiner Kunst der Schauspielerführung zeigt. Leila Hatami, Peyman Moadi, Shahab Hosseini, Sarey Bayat & Farhadis Tochter Sarina: Wir werden kaum gezwungen sein, uns ihre Namen zu merken; aber ihrer Ehre, ihrer Kunst wegen stehen sie hier. Sie alle haben mit solcher Eindringlichkeit & Wahrhaftigkeit gespielt, dass sie einen für zwei Stunden, die im Flug vergehen, ganz nahe an sich gezogen haben & uns zu den gebannten, bestürzten, mitfühlenden Zeugen ihrer Lebenswelt & ihrer Tragödie gemacht haben.

| WOLFRAM SCHÜTTE

Titelangaben
Asghar Farhadi: Nader und Simin
Regie und Drehbuch: Asghar Farhadi
Musik: Sattar Oraki
Kamera: Mahmood Kalari
Schnitt: Hayedeh Safiyari

Darsteller
Leila Hatami: Simin
Peyman Moadi: Nader
Shahab Hosseini: Hodjat
Sareh Bayat: Razieh
Sarina Farhadi: Termeh
Babak Karimi: Richter
Ali-Asghar Shahbazi: Naders Vater
Shirin Yazdanbakhsh: Simins Mutter
Kimia Hosseini: Somayeh
Merila Zarei: Frau Ghahraei

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Tickt dieses Spiel noch richtig?

Nächster Artikel

Wenige von der Sorte

Weitere Artikel der Kategorie »Film«

Das letzte Chamäleon

Film | Interview ›Welcome to Sodom‹ ›Welcome to Sodom‹ ist eine bildgewaltige, apokalyptische Doku über Europas größte Elektromüllhalde – mitten in Ghana. »Ghana steht der ökologische Kollaps bevor«, resümiert der Filmemacher Florian Weigensamer über die dunkle Seite unserer elektronischen Glitzerwelt, recycelte Frankenstein-Computer und Kultur als »last frontier« der Menschlichkeit. Ein Interview von SABINE MATTHES.

Von toten Winkeln und Räumen

Digitales | Film | Games: Dead Space 2 Eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, nach der Sichtung der recht amüsanten Marketing-Kampagne »Your Mom Hates This« einen feinen Text zu EAs Horror-SciFi-Actioner ›Dead Space 2‹ zu schreiben. RUDOLF INDERST über das Grauen im All.

Der Tod, der ihm das Lächeln zurückgab

Film | Helium(*) Ein Film von Eché Janga 1953 wurde es gegründet, seit 1994 ist es mit Heidelberg verbunden, das aufgrund seiner stargetöse- und mainstreamfreien Atmosphäre überaus wohltuende Filmfestival in Mannheim. Michael Kötz, seit 1992 künstlerischer Direktor, begrüßt das Kinopublikum in der Regel launig, durchaus erheiternd, Helium avisierte er über das Genre Gangster und Ganoven. Über die Geschichte, die Handlung, meint er am Ende seiner Anmoderation, möge man besser erst gar nicht weiter nachdenken, entscheidend sei die Atmosphäre. Von DIDIER CALME

Deutschland – noch nicht zu Ende gedacht

Film | Amnesia – ein Film von Barbet Schroeder »Ein Filmfestival«, so der künstlerische Leiter Michael Kötz in seiner Eröffnungsrede des Internationalen Filmfestivals Mannheim-Heidelberg 2015, »ist eng an die Lage des Kinos gebunden, ja, es feiert das Kino geradezu, das vor gut 100 Jahren mit den Lichtspielhäusern in allen Großstädten der Welt geboren wurde und dafür sorgte, dass die Filmkunst sehr bald zur alles beherrschenden Form der ästhetischen Weltwahrnehmung wurde. Und gibt es denn dieses Kino noch?« Anmerkungen von DIDIER CALME.

Spannende Handlung, dicht sortiert

Film | Im TV: TATORT ›Château Mort‹ (SWR), 8. Februar In den letzten Monaten folgten wir schon einmal dem Versuch, Bildungsgut für den Sonntagabend fein aufzubereiten. Das ist leider schwieriger als gedacht. Neulich musste Shakespeare dran glauben, der mit Anklängen an einen Western in Szene gesetzt wurde. Man war verwirrt und dachte heftig darüber nach, ob das den Western beschädigte oder Shakespeare oder womöglich den ›TATORT‹. Von WOLF SENFF