/

Leidensgeschichte

Gesellschaft | Palästina. Ethnische Säuberung und Widerstand

Über den aktuellen Auseinandersetzungen um die Palästinafrage – Aufnahme Palästinas in die UNO, Kampf um Gaza, israelische Siedlungen – verliert man leicht die historische Dimension des Konflikts aus den Augen. Der von einem italienischen Autorenteam erarbeitete Sammelband Palästina will die Geschichte des arabischen Palästina, die »Nakba«, die nationale Katastrophe der Palästinenser von 1948/49, und die Anfänge ihrer Widerstandsbewegung nachzeichnen. Von PETER BLASTENBREI

Zambon PalästinaDazu bietet der Band einen fortlaufenden historischen Rahmentext von der Vorgeschichte des umstrittenen Landes bis zum israelischen Überfall auf Gaza 2008/09. Eingebettet in den Text sind thematische Blöcke, die wie auch der Anhang Dokumente und Analysen ausgewählter Einzelfragen enthalten. Einige dieser thematischen Blöcke sind ausgesprochen wertvoll, so der zum Ablauf der Vertreibung von 1947/49 von Federico Lastaria oder die zur weiteren Information nützliche Beschreibung jüdischer Organisationen und Einzelpersonen (mit Links) gegen den israelischen Terror von Paola Canarutto und Giorgio Forti. Aber warum fehlt hier ein Hinweis auf den Antizionismus der orthodoxen Juden?

Anders sieht es mit dem historischen Rahmentext aus. Dieser (anonyme) Text ist über weite Strecken konfus, ohne einschlägige Vorkenntnisse oft schwer verständlich und gespickt mit kleineren und größeren Sachfehlern. Eine Einteilung in Sinnabschnitte fehlt, stattdessen hangelt sich die Erzählung chronologisch und in der neueren Zeit von Massaker zu Massaker vorwärts. Ausgesprochen ungeschickt ist die thematische Unbalanciertheit des Textes. Der Schwarze September 1970, die PLO im libanesischen Bürgerkrieg oder ihre von Syrien inszenierte Vertreibung aus diesem Land bekommen jeweils kaum einmal eine halbe Seite Platz – deutlich weniger als das bronzezeitliche Palästina.

Eine Richtigstellung der Sachfehler würde den Rahmen der Rezension sprengen. Die nicht minder zahlreichen unverstandenen und unverständlich dargestellten historischen Schlüsselereignisse sind ohnehin viel problematischer. So wird mehrfach betont, der Zionismus sei ein Sonderfall des europäischen Kolonialismus. Aber was heißt das? Die Bedeutung der sogenannten 2. Alijah mit ihrer Idee der »Eroberung der Arbeit« wird nicht erkannt und nicht analysiert, obwohl sie dem Zionismus lange sein nichtkapitalistisches (nicht sozialistisches) Gesicht gab und implizit die physische Verdrängung der Palästinenser vorausnahm.

Die Autoren haben ebenso wenig die soziale Gebundenheit und politische Beschränktheit der frühen palästinensischen Nationalbewegung der 1920er und 1930er Jahre verstanden, die ja eine der Ursachen für ihre Niederlage wurde; unverstanden bleibt auch die Bedeutung des Schicksalsjahres 1929/30, unverstanden die Folgen des Aufstands von 1936/39 und so vieles mehr. Soweit die jüngere arabische Geschichte außerhalb Palästinas in den Blick kommt, erscheint sie so chaotisch wie bei traditionellen deutschen Leitartiklern.

Besonders unglücklich war die redaktionelle Entscheidung, den Text »nicht mit Literaturangaben zu überfrachten« (S.223). Zahllose Informationen und sogar wörtliche Zitate (in Anführungszeichen!) müssen so ohne Nachweise auskommen, einschließlich extrem brisanter Streitfragen (wie beispielsweise die umstrittene Mossad-Beteiligung am Synagogenanschlag in Bagdad 1951). Die kurzen Literaturhinweise (anstelle einer kommentierten Literaturliste) gleichen das nicht aus.

Nakba

Schwerpunkt des Buches ist die ethnische Säuberung Palästinas 1947-1949, Flucht und Vertreibung seiner arabischen Einwohner, die die Palästinenser als Nakba, die nationale Katastrophe, betrauern, weil sie aus einem ansässigen, auf politische Unabhängigkeit hoffenden Volk dauerhaft Flüchtlinge, Unterdrückte und politisch Entmündigte machte. Dies, wie auch die nachfolgenden, zum Teil äußerst brutalen Übergriffe auf Palästinenser, Frauen, Kinder, Alte, seitens israelischer Kräfte sind hervorragend dokumentiert und mit zahlreichen Bildern illustriert.

Solche Bilder sind gewiss nichts für schwache Nerven. Als Gegengewicht zur einseitigen Berichterstattung im Westen mag es dennoch sinnvoll sein, die Leiden der Palästinenser in dieser Breite darzustellen, aber selbstverständlich nicht ohne eine konzentrierte Einbettung all dieser Scheußlichkeiten in ihr politisches Umfeld (wie es etwa Finkelstein in seinem Gaza-Buch vorbildlich tut). So wie es hier geschieht – noch mehr zerfetzte Leiber, noch mehr zerstörte Häuser, noch mehr Statistiken über Tote und Verletzte – sind Effekte zu befürchten, wie sie die gedruckte und gesendete Katastrophenberichterstattung jeden Tag erzeugt, Gewöhnung, Überdruss und Resignation.

Unmerklich und sicher unbeabsichtigt geschieht nebenbei etwas noch Schlimmeres: Angesichts des weitgehenden Verzichts auf politische (und wirtschaftliche) Analyse reduziert diese massive Emotionalisierung das palästinensische Volk vom politischen Akteur wieder zum Volk der passiv leidenden ewigen Verfolgten. Dafür hat der palästinensische Widerstand nicht gekämpft.

Vertane Gelegenheit

Der Verleger, Giuseppe Zambon, selbst mit mehreren engagierten Beiträgen in dem Band vertreten, leidet als antizionistischer Jude eingestandenerweise an der unmenschlichen Praxis des Zionismus. Laut Vorwort wollte er gerade den Juden der Diaspora mit diesem Buch einen Leitfaden zum Umdenken in die Hand geben.

Nur ist selten bei einem Buch das qualitative Ungleichgewicht seiner Einzelteile so groß gewesen wie bei diesem opulent aufgemachten, mit fast 300 Bildern und Karten ausgestatteten (und 2,5 kg schweren) Wälzer, der zudem mit so großen Ambitionen und so viel guter Absicht der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Der unzulängliche historische Text, immerhin zwei Drittel des Inhalts, wird, soviel ist zu befürchten, mehr grobe Missverständnisse hinterlassen, als die besten thematischen Beiträge geraderücken können.

| PETER BLASTENBREI

Titelangaben
Autorenteam Vittorio Arrigoni, Paola Canarutto, Margherita Dametti, Giorgio Forti, Ugo Giannangeli, Federico Lastaria, Dirar Tafeche und Giuseppe Zambon: Palästina. Ethnische Säuberung und Widerstand
(Palestina. Pulizia etnica e resistenza. Zambon 2010)
Deutsch von Antje Foresta Niederberger
Frankfurt am Main: Zambon 2011
264 Seiten. 35 Euro
| Erwerben Sie dieses Buch portofrei bei Osiander

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Step into my Dojo

Nächster Artikel

Kampf über 26 Jahre und 26 Tage

Weitere Artikel der Kategorie »Gesellschaft«

Arbeiten? Nicht arbeiten?

Gesellschaft | David Graeber: Bullshit-Jobs Das Thema ist originell, das ist gar keine Frage, und man wartet schon seit langer Zeit darauf, dass die vielen überflüssigen Arbeitsabläufe in staatlicher Bürokratie und im Management privater Unternehmen einmal systematisch erfasst werden. Von WOLF SENFF

Ein denkwürdiger Prozess

Sachbuch | Devin O. Pendas: Der Auschwitz-Prozess Im Dezember 2013 jährt sich der Beginn des »Auschwitz-Prozesses« zum 50. Mal. Im Vorfeld dieses bedeutenden Jahrestages erscheint im Siedler-Verlag eine historisch-juristische Aufarbeitung dieses Weltereignisses mit dem schlichten Titel Der Auschwitz-Prozess – Völkermord vor Gericht. Gelesen von WOLFGANG HAAN.

Digitale Seifenblase

Gesellschaft | Roland Reuß: Ende der Hypnose. Vom Netz zum Buch Nein, wir wollen in diesen Zeilen nicht die aktuell angekündigte Publikation von Roland Reuß rezensieren; es handelt sich dabei um einen vergleichsweise kurzen Essay von sechzig Seiten, der auf den Ergebnissen von ›Ende der Hypnose‹ aufbaut, einer Arbeit, die innerhalb kürzester Zeit nun zum vierten Mal aufgelegt wird. Das ist’s, was uns neugierig gemacht hat, und wenn ›Ende der Hypnose‹ den Nerv trifft, spräche nichts dagegen, sich auch dem dieser Tage erscheinenden Essay zuzuwenden. Von WOLF SENFF

Vorsicht vor Frauen und Schnaps

Gesellschaft | Leitfaden für britische Soldaten 1944 Spätestens seit die US-Regierung auf den 9/11-Terror mit Bombeneinfällen im Irak reagierte, kennt man auch im friedensverträumten Deutschland das Wort »Exit-Strategie«. Man sollte, besagt es, nicht irgendwo einfallen, wenn man nicht weiß, wie man wieder rauskommt. Das leuchtet selbst Zivilisten ein, ist aber nur der zweite Schritt. Der erste – für den zweiten unabdingbare – scheint in neuen »asymmetrischen« Kriegen fatalerweise wegtechnologisiert zu sein: Man sollte das Land, in das man einfällt, sehr gut kennen. Nicht nur die Geo- und Topographie samt Klima, sondern die Menschen und deren Geschichte, Kultur, Lebensart, Mentalität. Mit

Haarsträubend

Gesellschaft | Werner Bartens: Verletzt, verkorkst, verheizt Die körperliche Leistung genießt bei uns eine deutlich höhere gesellschaftliche Wertschätzung als die geistige, der Sport siegt locker über die Bildung, so ist es nun einmal, wie auch immer man dazu stehen mag. Fitnesstraining steht bei allen Altersstufen hoch im Kurs, der Erhalt der körperlichen Gesundheit ist wichtig, man fährt mit dem Rad, man läuft Marathon. Von WOLF SENFF