Roman | Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Bis zur Lektüre von ›Der Hase mir den Bernsteinaugen‹ habe ich nicht gewusst, was Netsuke sind. Musste man ja auch nicht. Aber jetzt weiß ich, dass es sich dabei um das ästhetische »Fingerfood« kleiner japanischer Holz- & Elfenbeinschnitzereien handelt & dass der Londoner Keramikprofessor (auch ein akademischer Grad, von dem ich bislang noch nie etwas gehört hatte) Edmund de Waal 264 Stück Netsuke besitzt, deren Lebensweg er in seinem grandiosen Buch (dem kein zweites dieser Art »aus seiner Feder« folgen dürfte) beschreibt. Der Titel gebende ›Hase mit den Bernsteinaugen‹ ist einer davon. Von WOLFRAM SCHÜTTE
De Waal dienen diese seltsamen Erbstücke als Leitfossilien, um mir ihrer Hilfe verschiedene Zeiten & Orte seiner europaweit verzweigten Familiengeschichte aufzudecken & dadurch vielerlei gleichzeitig zu erzählen, zu recherchieren und auf Proustsche Weise zu beschwören: die Geschichte der Herkunft & des Lebens des väterlichen Teils seiner Familie: jüdischer Großbürger, deren Gründungsväter Leon & Ignaz durch den Weizenhandel in Odessa unermesslich reich wurden & den Namen Ephrussi auch in Paris und Wien (wohin deren Kinder zogen) einmal ebenso weltbekannt machten wie den der in Frankfurt a. M. ursprünglich ansässigen Rothschilds; die Welt- & Sozialgeschichte zwischen der Ukraine, Europa & Japan von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart; die Kultur- & Kunstgeschichte des vergangenen Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Japanologie – also jener von Frankreich ausgehenden, bei manchen Impressionisten kenntlichen modischen Begeisterung für alles Japanische & vor allem auch für die dem Alltag verpflichteten Netsuke, die der mit Proust wie auch mit den Goncourts, Pizarro & Renoir eng bekannte, nach Paris gegangene Kunsthistoriker Charles Ephrussi einst gekauft und dann um die Jahrhundertwende de Waals Urgroßeltern Viktor & Emmy zu deren Hochzeit in Wien geschenkt hatte.
Die Brutalität des österreichischen »Anschlusses« an Hitler-Deutschland wie auch die Gemeinheiten der »Arisierung« des am Wiener Ring liegenden mächtigen Ephrussi-Hauses ist der Tiefpunkt in der Familiengeschichte, Dank der schriftstellerischen Brillanz de Waals aber vielleicht auch der literarische Höhepunkt der Erzählung.
Dem Autor gelingt es mühelos, einen gewissermaßen »plauderdings« (Fontane) zum atemlosen & staunenden Zuhörer & damit auch zum Zeugen seiner intimen & zeittypischen »Beschwörungen des Imperfekts« (Th. Mann) zu machen. ›Der Hase mit den Bernsteinaugen‹ – ähnlich wie McGregors ›Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten‹, nur dass diese gewissermaßen einem Fotoalbum gleicht, während de Waal sich vergleichsweise für einen epischen Film entschieden hat – kreuzt amphibisch zwischen Fakten und Fiktionen souverän hin & her. Der große irische Autor Colm Toibin hat in Edmund de Waal den literarisch Geistesverwandten erkannt, indem er ihm zurecht nachsagt, dass das Buch »stets das Große im Blick hat und doch die kleinen Dinge zum Leben erweckt, die eine verschwundene Welt heraufbeschwören«.
Diese sinnliche Vergegenwärtigungskraft des englischen Keramikprofessors ist ein ebenso großes Rätsel (dass es in ihm vorhanden war!) wie das daraus erwachsende Lese-Vergnügen quer durch literarische Genres.
Wieso aber die 264 kleinen Netsukes nach ihrer hundertjährigen Odyssee & trotz der Verwicklungen & Tragödien des vergangenen Jahrhunderts, in dessen Verlauf sie sogar auch einmal bis in ihr Herkunftsland geraten, auf den Erzähler (& wir dadurch zu diesem von Brigitte Hilzensauer zwar vorzüglich übersetzten, aber mit der Zeichensetzung auf dem Kriegsfuß stehenden Buch) gekommen sind: Das wird hier nicht verraten.
Titelangaben
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Übersetzt von Brigitte Hilzensauer
Wien: Zsolnay Verlag 2012
416 Seiten, 26 Euro
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