Novelle | Hans Joachim Schädlich: Sire, ich eile
Hans Joachim Schädlich gehört fraglos immer noch zu den unterschätzten Autoren des deutschen Sprachraums. Dabei versteht es der 76-jährige Autor geradezu meisterlich, komplexe Sachverhalte durch radikale sprachliche Reduktion auf extrem schmale Buchumfänge zu komprimieren. Diese stilistische Finesse zieht sich wie ein roter Faden durch Schädlichs Oeuvre – von Versuchte Nähe (1977) bis Kokoschkins Reise (2010). Nun legt der ausgebildete Sprachwissenschaftler, der 1977 aus der damaligen DDR in den Westen übergesiedelt ist, eine pointierte, schmale Novelle vor, die es in ihrer Substanz mit opulenten Biografien und wissenschaftlichen Abhandlungen aufnehmen kann. Von PETER MOHR
Zwischen Flucht und Ergreifung
Schädlich widmet sich – basierend auf einem intensiven Studium der überlieferten Korrespondenz – dem Verhältnis zwischen Friedrich II, dessen 300. Geburtstag jüngst gefeiert wurde, und dem 18 Jahre älteren französischen Universalgenie Voltaire (1694-1778).
Zwei hyper-eitle Größen ihrer Zeit treffen aufeinander, und zwischen ihnen steht die französische Adelige Emilie du Chatelet. Schädlich rekonstruiert anhand der historischen Quellen minutiös, wie sich das Verhältnis zwischen dem großen französischen Aufklärer Voltaire (seit dem ersten Brief 1736 und dem Zerwürfnis 1753) und dem preußischen König Friedrich II. entwickelt hat. Voltaire lebt zu Beginn mit der hochgebildeten Mathematikerin Emilie auf deren Schloss in Cirey (30 km nordwestlich von Chaumont gelegen) in einem eheähnlichen Verhältnis. Umgeben von einer gigantischen Bibliothek fühlt sich Voltaire wie im Paradies. »Als Liebende, als geistige Arbeiter, als Freunde« bezeichnet Emilie ihr Verhältnis zu Voltaire, der sich seinerseits vom Werben des preußischen Monarchen geschmeichelt fühlt. Friedrich schreibt an Voltaire, dass er hoffe »eines Tages den Mann zu sehen, den ich seit so langer Zeit von weitem bewundere.«
1749 wird Emilie, die Voltaire stets vor Friedrich gewarnt hatte, schwanger und stirbt kurz nach der Entbindung. Für den Philosophen ist dies der Impuls, seine Heimat zu verlassen, ein neues Leben zu beginnen und Friedrichs Ruf nach Potsdam zu folgen. Doch der Regent benutzt Voltaire nur als prestigeträchtiges Vorzeigeobjekt. Zweieinhalb Jahre lebte Voltaire ab Sommer 1750 an Friedrichs Hof, sein Bild vom Monarchen änderte sich radikal: »Unter der dünnen Außenhaut des Ästheten liegt die Seele eines Schlachters.«
Der machtbesessene und zum Narzissmus neigende Regent täuschte nach außen hin lediglich Kunstsinnigkeit und Liberalität vor, war aber im tiefsten Innern ein gewiefter, egoistischer Stratege: »Ich brauche ihn höchstens noch ein Jahr. Man presst eine Orange aus und wirft die Schale weg«, spottete er über Voltaire. Die beiden entzweien sich, Voltaire tritt die Flucht an, wird aber von Friedrichs Truppen gestellt und in Frankfurt in demütigender Weise gefangen gehalten. Später bezieht er Asyl in Genf, kauft sich dort ein Haus, das er ausgerechnet »Les Délices« (dt. die Wonnen) nennt.
In Schädlichs stilistisch ausgefeilter historischer Novelle geht es neben dem persönlichen Verrat, den Friedrich begangen hat, vor allem um die Auseinandersetzung zwischen Geist und Macht, um den Spagat zwischen aufklärerischer Philosophie und kühler strategischer Politik. Mit dieser Unvereinbarkeit musste der Autor einst in der DDR selbst über viele Jahre leben. Dass Schädlichs Sympathien beim Verfassen dieses Textjuwels ganz stark dem Candide-Verfasser gehörten, ist deutlich zu spüren, kann aber auch nicht wirklich überraschen. Wohl aber die Tatsache, dass diese gerade einmal etwas mehr als 140 locker bedruckte Seiten umfassende Novelle den Leser derart stark gefangen nimmt, dass man am Ende glaubt, die beiden Größen des 18. Jahrhunderts persönlich zu kennen. Das schafft nur große Literatur.
Titelangaben
Hans Joachim Schädlich: Sire, ich eile
Voltaire bei Friedrich II. Novelle.
Berlin: Rowohlt 2012
141 Seiten, 16,95 Euro
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