Menschen | Jutta Jacobi: Die Schnitzlers. Porträt einer Familie
Familiengeschichten erfreuen sich beträchtlicher Beliebtheit, die Manns, Quandts, Astors, Wertheims, immer wieder tauchen sie auf als Beispiele einer Gruppe, die eine Epoche geprägt hat und ihrerseits von den Zeitläufen geprägt wurde. Jutta Jacobi stellt die Schnitzlers vor, aber ein Gruppenporträt will nicht so recht gelingen, die männlichen Vertreter drängen sich in den Vordergrund, die weiblichen bleiben Garnitur. Von MAGALI HEISSLER
Der Titel ›Die Schnitzlers‹ lässt schon aufhorchen, hat man doch bei dem Namen vor allem einen Vertreter vor Augen, Arthur, Erzähler und Dramatiker. Berühmt ab den 1890er Jahren als literarischer Chronist und Kritiker seiner Zeit, geriet er nach dem Zweiten Weltkrieg fast in Vergessenheit und erlebte erst mit den 1960er Jahren eine Renaissance. So ist man gleich gespannt, wer die anderen sind.
Jacobi eröfffnet die Geschichte der Familie mit Johann Schnitzler, Arthurs Vater. 1858 kam er, dreiundzwanzigjährig, aus einer ungarischen Kleinstadt nach Wien, um sein Medizinstudium zu beenden. Seine Geschichte liest sich als unaufhaltsamer Aufstieg vom armen jüdischen Studenten zum hochberühmten Kehlkopfspezialisten. Ähnlich geradlinig verlaufen die Karrieren seines ältesten Sohns Arthur zum Schriftsteller und des Enkels Heinrich, Regisseur und derjenige, dem die Wiederentdeckung Arthur Schnitzlers am ehesten zu verdanken ist. In der Generation der Urenkel überlässt Jacobi vor allem Michael Schnitzler, Violinist und Naturschützer, die Bühne.
Der Faszination der jeweiligen individuellen Leistung kann sich auch die Leserin nur mit Mühe entziehen, Heldenepen gehören nicht von ungefähr zu den Archetypen des Erzählens.
Da war noch was
Eine Familie aber ist mehr als eine Gruppe von Einzelnen. Jacobi ist sich dessen bewusst, sie hat intensive Quellenstudien betrieben und eine Menge Material aufgetan. Familiäre Zusammenhänge werden aufgeführt, Ehefrauen, Geschwisterkinder, Verwandtschaften väterlicher- und mütterlicherseits, gemeinsame Bekannte, es gibt Hinweise auf soziale Netzwerke. Das verkommt jedoch zu oft zur bloßen Aufzählung von Namen mit ein wenig Beiwerk. Gut, dass es auf dem Vorsatz einen Stammbaum gibt.
Es sind vor allem die Frauen der Familie, die die Opfer der schlechten Quellenlage sind, es aber auch in dieser Darstellung werden, weil der Blick der Autorin dafür nicht geschärft ist. Die Lücken füllt sie mit dem, was zuhauf vorhanden ist, vor allem den Liebesverstrickungen Arthur Schnitzlers. Wenn das nicht reicht, schreibt sie sich selbst ein mit Beschreibungen ihrer Recherchearbeit, persönlichen Begegnungen dabei, deutet Gesichter auf Fotos oder erfindet gar Szenen zwischen Mitgliedern der Schnitzler-Familie. Dann wird das Ganze zum bloßen Theater.
Aber da war noch was, die Antwort auf die Frage nämlich, was nun ausgerechnet die Schnitzlers als Gruppe so wichtig macht, dass es eine Gruppenbiographie rechtfertigt. Die bleibt Jakobi letztlich schuldig. Man erfährt viel in diesem im Übrigen sehr anschaulich geschriebenen Buch, aber nicht genug. Verbindende Elemente fehlen, hier wird zu wenig in die Zeitumstände eingebettet. Arthur Schnitzler ist hier nicht Teil der Wiener Theatergeschichte und sein Vater nur in geringem Umfang Teil der Medizingeschichte. Man liest ein wenig über Freizeitgestaltung da, Ferienreisen dort, über den Familienalltag an anderer Stelle. Ob das aber typisch war für eine bürgerliche Wiener Familie zwischen 1860 und 1938 erfährt man nicht. Wonach richteten sie sich in Verhalten, Mode, Weltsicht? War das, was sie taten, Ausfluss ihrer individuellen Überzeugung oder einer Gruppe und wenn ja, welcher? Welche Rolle spielte der jüdische Glaube? Wie kam man denn nun als junger Autor ins Theater? Welche Bedeutung hatte das Theater überhaupt für diese Gruppe des Bürgertums? Klare Antworten gibt es nicht, die wenigen Hinweise sind verstreut in zahlreichen Geschichten und G’schichterln. Sie machen die Lektüre farbig, aber zugleich beliebig.
Statt in aller Breite Schnitzlers erotisches Herzeleid zu beschreiben (und laienhaft zu pathologisieren), hätte man z.B. der Frage nachgehen können, was für widersprüchliche Standards eigentlich in dieser gesellschaftlichen Gruppe herrschten, die es ermöglichten, dass Frauen sich Liebhaber wählten, wie Männer Geliebte. Dass Frauen die Folgen trugen, ihr Ruf litt, der der Männer wenig. Schnitzler selbst thematisiert das in seinen Geschichten. Die Einflüsse der Außenwelt verschwinden aber in dieser Geschichte privater Gefühle und Gefühlseindrücke der Autorin weitgehend.
Privatissime
Dynamik kommt durch die jeweiligen Zeitläufe, der aufkommende Antisemitismus in Österreich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg und schließlich der Überfall der Nationalsozialisten. Die Außenwelt muss sich aufdrängen, anders wird sie von Jacobi kaum wahrgenommen. Einmal im vertrauten Fahrwasser der Geschichte verfolgter Jüdinnen und Juden sind Zusammenhänge und Fragen wieder verschwunden. Was man zu lesen bekommt, ist eine weitere Geschichte individueller Verfolgung und der Lösung der Probleme durch die Betroffenen. Das ist wichtig, erhellend, packend, aber nichts daran ist neu. Zu vertraut sind die Ereignisse, ist das Verhalten für die Autorin. Details gibt es in Hülle und Fülle, hier wird nun alles höchst privat, intim geradezu. Eine Bedeutung, die über Innerfamiliäres hinausreicht, hat nur das Wenigste. Man fühlt sich bald ein wenig voyeuristisch beim Lesen, uneingeladen ins Innerste blickend, als Spionin im Privatissime.
Das gilt vor allem für das Leben der US-amerikanischen Familienmitglieder nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Leistung, ein solches Vertrauen zu den noch lebenden Familienmitgliedern aufgebaut zu haben, ist beachtlich. Mehr als einfache Neugier wird aber nicht befriedigt. Wen es nicht weiter packt, zu erfahren, welche Pflanzen in wessen Garten wachsen oder wer Pfeife raucht von den Enkeln und wer nicht, gerät im letzten Drittel des Buches leicht in Versuchung zu blättern.
Wege
Dabei enthält die Zeit der Vertreibung und des Exils in den USA noch einmal Wesentliches für die Familiengeschichte und rundet das ab, was tatsächlich das Charakteristikum einer bürgerlichen Familie der Zeit zwischen 1860 und 1938 eigentlich ausmacht.
Zum einen legt Jacobi ihren Finger energisch auf einen sehr wunden Punkt, die Geschichte des Nachlasses von Arthur Schnitzler. Seiner Frau Olga gelang es, einen Gutteil vor den gierigen Fingern der Nationalsozialisten nach England zu retten, in die Bibliothek der Universität Cambridge. Die Zeit erwies allerdings, dass die Besitzverhältnisse alles andere als klar sind. Aktualität gewinnt Jacobis Untersuchung inzwischen dadurch, dass aufgrund ihrer neuen Erkenntnisse sich die Enkel Schnitzlers entschlossen haben, den Nachlass endgültig zurückzufordern. Mit der Restitution wäre das, was Heinrich Schnitzlers Rückkehr nach Wien bald nach Kriegsende einleitete, nämlich die Familie dorthin zu bringen, wo ihre gemeinsame Geschichte ihren Ausgang nahm, glücklich abgeschlossen. Der eine lange Weg hätte sein Ziel gefunden.
Und das ist es, was in dieser Familiengeschichte tatsächlich eingeschrieben ist, die Wege. Die Schnitzlers als Vertreter einer neu aufsteigenden Gesellschaftsschicht zeigen sich enorm fähig zu dem, was zum Aufstieg nötig war, Mobilität nämlich. Es war eine soziale, gesellschaftlich gesehen nach oben gerichtete Mobilität ebenso wie eine ökonomische und geographische. Das Familienporträt auf dem Buchumschlag täuscht. Die Figuren sitzen und stehen nur für den Moment still. Kaum ist das Foto gemacht, sind sie wieder unterwegs. Von einfacher Unterkunft zu größerer und großer Wohnung, zum eigenen Haus. Von der Arztpraxis zur Poliklinik, von der Liebhaberaufführung im eigenen Wohnzimmer zur Theaterbühne. Von Wien in die Urlaubsorte, bald in angrenzende Länder, nach Italien, nach Deutschland. Kriegsbedingt führt der Weg schließlich um die halbe Welt und wieder zurück nach Wien.
Sie sind der Welt zugewandt, immer offen für neue Entwicklungen, gleich, ob als Zuckerfabrikanten, Mediziner mit Ideen für die Gesundheitsversorgung, die bis heute aktuell sind, als Schriftsteller, Regisseur oder Umweltschützer. Aktiv, flexibel, mobil, das sind die Stärken des Bürgertums jener Zeit, das gaben sie noch den Enkeln und Urenkeln mit.
Die Autorin gibt das eher beiläufig wieder, die Überschriften der vier Großkapitel etwa tragen Ortsnamen. Auch die »Rahmenhandlung«, die Jacobi für ihre Geschichte braucht, beschreibt genau das. In der Begleitung der Urenkelin spaziert sie über den Wiener Zentralfriedhof. Wege eben.
Titelangaben
Jutta Jacobi: Die Schnitzlers. Eine Familiengeschichte
St. Pölten: Residenz Verlag 2014
304 Seiten, 24, 90 Euro
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