/

Allgegenwärtiges Trauma

Kulturbuch | Ronja von Wurmb-Seibel: Ausgerechnet Kabul

Die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel ist 26 Jahre alt, als sie sich im Frühjahr 2013 dazu entschließt, nach Kabul zu ziehen. Einem afghanischen Freund erklärt sie ihre Entscheidung so: »Ich liebe meinen Job hier. (…) Ich habe das Gefühl, ständig auf der Suche zu sein. Das mag ich.« Gut, dass sie dem gefolgt ist, denn mit ihren persönlichen Geschichten zeigt sie, wie es wirklich ist, im Krieg zu leben. Von STEFFEN FRIESE

Ausgerechnet Kabul von Ronja Wurmb-SeibelAfghanistan ist ein Land voller Grenzen. Egal ob sie zwischen Männern und Frauen, Afghanen und Ausländern oder Nato-Streitkräften und afghanischen Soldaten verlaufen, sie erschweren das gesellschaftliche Leben. Das zeigt sich, wenn von Wurmb-Seibel beschreibt, wie viele der ausländischen Entwicklungshelfer ihre Zeit verbringen: Sie betrinken sich, feiern Partys. Wegen der »White Lists«, in denen Unternehmen festschreiben, an welchen öffentlichen Orten sich ihre Mitarbeiter aufhalten dürfen, haben sie kaum die Chance, das Land und seine Menschen kennenzulernen.

Zwischen Vorurteil und Freundschaft

Das Verhältnis der deutschen Soldaten zu den Menschen in Afghanistan ist gespalten. Viele der Einheiten verlassen während ihres Einsatzes nicht einmal ihre Basis und halten am Klischee des stinkenden und klauenden Afghanen fest. Ein anderes Beispiel liefert die Geschichte von Fabian, dem Bundeswehrsoldaten, und Zia, seinem afghanischen Übersetzer. Die beiden arbeiten zusammen, vertrauen sich, werden Freunde. Auch als der Deutsche nach Hause zurückkehrt, bleiben sie in Kontakt.

So schön das Wachsen dieser internationalen Freundschaft auch ist, so traurig sind die Schatten, die der Krieg auf das Land wirft. Einheimische wie Zia, die mit den Nato-Truppen zusammenarbeiten, werden von den Taliban bedroht und müssen um ihr Leben fürchten. In scheinbar befriedeten Gebieten brechen nach Abzug der westlichen Soldaten wieder Kämpfe aus. Landstriche sind weitläufig durch Munitionsreste verseucht.

Frage nach der Sinnhaftigkeit des Krieges

Wie soll die Zukunft in Afghanistan aussehen? Von Wurmb-Seibel hat junge Menschen getroffen, die das Land verändern und es besser machen wollen, sie hat mit Deutsch-Afghanen gesprochen, die in ihr Heimatland zurückgekehrt sind, um zu helfen. Sie alle geben ihr Bestes, doch jeder Anschlag, jede Explosion verunsichert, schürt Ängste und fördert das Trauma, welches der Krieg in großen Teilen der Bevölkerung hinterlassen hat.

Die 13 Geschichten, die von Wurmb-Seibel feinsinnig erzählt, bewegen. Einige sind amüsant, andere traurig, aber alle werfen die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Krieges auf, den die Truppen der Nato fast 15 Jahre lang geführt haben. Anders als viele Medien berichten, haben sich die Menschen in Afghanistan nicht an ihn gewöhnt, sondern werden noch lange Zeit mit seinen Nachwirkungen zu kämpfen haben.

| STEFFEN FRIESE

Titelangaben
Ronja von Wurmb-Seibel: Ausgerechnet Kabul
13 Geschichten vom Leben im Krieg
München: DVA 2015
256 Seiten. 17,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Eine musikalische Wanderung zwischen Imagination und Realität

Nächster Artikel

Männerbilder mit Damengirlanden

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Gehen, um sich selbst zu finden

Kulturbuch | Norbert Parucha: Meditatives Wandern Wer beim Unterwegssein die ganze Konzentration auf das Erreichen des Zieles lenkt, geht möglicherweise sich selbst verloren. ›Meditatives Wandern‹ dagegen vermittelt das Wiedererlernen der Bewusstheit. Norbert Parucha hat dazu einen handlichen Wanderbegleiter mit anregenden Übungen, Texten und Impulsen verfasst. Von INGEBORG JAISER

Bilder aus einem fernen Land

Kulturbuch | Graetz / Teubert: Stadt, Land, Leben. Fotografien aus der DDR 1967-1992 »Land der Knipser« hat man die DDR manchmal genannt. Das ist richtig, wenn man die Verbreitung des Hobbys Fotografie anschaut. Ganz anders als in der BRD – die ja nicht weniger ein »Land der Knipser« war – scheint sich aber sogar die vergangene ostdeutsche Realität überhaupt erst aus privaten Schnappschüssen zu erschließen, fernab von langweiligen, inszenierten offiziellen Aufnahmen. Jürgen Graetz, dessen Bildern Stadt, Land, Leben gewidmet ist, ist ein besonderer Fall, ein offizieller Fotograf auf Abwegen. Von PETER BLASTENBREI

Abfahrt Leben, Gleis 1

Kulturbuch | Juliane Zimmermann: Der Teufel steckt im ICE Sie tragen schmucke dunkelblaue Uniformen mit roten Farbakzenten, kennen fast jeden Bahnhof in Deutschland (wenngleich eher selten alle Städte dahinter) und sind geschult im Krisenmanagement: die Zugbegleiter der Deutschen Bahn. Juliane Zimmermann ist eine davon. Was sie während ihrer Fahrten alles erlebt hat, hat sie in einem Buch veröffentlicht. INGEBORG JAISER über das Leben auf der Schiene.

Fotografische Zeitreise

Kulturbuch | Thomas Kierok: Hundert Thomas Kierok ist freier Fotograf, Dozent und Buchautor. Schwerpunkt und Leidenschaft: die Porträtfotografie. Die Aneinanderreihung von Porträts aus einhundert Geburtsjahrgängen mag auf den ersten Blick simpel erscheinen, aber die Bilder fesseln und erzählen Bände. BARBARA WEGMANN hat in dem Bildband geblättert.

Brücken inklusive

Kulturbuch | Thomas Fasbender: Freiheit statt Demokratie. Russlands Weg und die Illusionen des Westens Wir folgen einem respektlosen Blick auf unser Land, auf unser Europa, und zwar in einer Zeit, in der doch »Loyalität« oder, neudeutsch, »Corporate Identity« als Filter für öffentliche Äußerungen dient. Jeder öffentliche Auftritt ist eine »Präsentation«, ein PR-gestylter Auftritt eines Produkts, einer »Ware«, sei es der neuen Veggie-Wurst, der neuen PKW-Baureihe, einer politische Partei, eines CEO, eines Amtsinhabers. Von WOLF SENFF