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Bilder aus einem fernen Land

Kulturbuch | Graetz / Teubert: Stadt, Land, Leben. Fotografien aus der DDR 1967-1992

»Land der Knipser« hat man die DDR manchmal genannt. Das ist richtig, wenn man die Verbreitung des Hobbys Fotografie anschaut. Ganz anders als in der BRD – die ja nicht weniger ein »Land der Knipser« war – scheint sich aber sogar die vergangene ostdeutsche Realität überhaupt erst aus privaten Schnappschüssen zu erschließen, fernab von langweiligen, inszenierten offiziellen Aufnahmen. Jürgen Graetz, dessen Bildern Stadt, Land, Leben gewidmet ist, ist ein besonderer Fall, ein offizieller Fotograf auf Abwegen. Von PETER BLASTENBREI
 
Graetz DDRGraetz, Jahrgang 1943, arbeitete nach seiner Ausbildung als angestellter Fotograf am Museum für Ur- und Frühgeschichte in Potsdam-Babelsberg. Um 1970 der erst einmal illegale Umzug nach Berlin, wo er weder Unterkunft noch Arbeit hatte. 1971 durch Heirat »legaler« Berliner war er ab 1976 als freiberuflicher Fotograf und Bildjournalist für eine ganze Reihe bekannter DDR-Illustrierten tätig. Die hier gesammelten Bilder entstanden eher nebenbei, bei Streifzügen für seine offiziellen Auftraggeber, und vorerst »für die Kiste«, denn Graetz hatte weder den Ehrgeiz, durch eine Ausstellung bekannt zu werden, noch viel Lust auf die damit verbundenen Scherereien.
 
Bilder von Menschen

Ein Knipser also im besten Sinn, dem technisch, in Ausleuchtung und Perspektive niemand etwas vormachen konnte, der sich deshalb ganz auf die Darstellung konzentrieren konnte und in der Motivauswahl völlig frei war. Graetz hat hauptsächlich in Berlin fotografiert, im Prenzlauer Berg, in Mitte, in Pankow, und dann in vielen kleinen Dörfern im Norden und Osten der Republik. Bilder aus Halle oder Dresden sind selten. Zeitlich liegen die Schwerpunkte seiner Aufnahmen zwischen 1967 und 1978, dann wieder 1984 bis 1987, die Bilder des letzten Kapitels stammen alle aus dem Jahr 1990. Man sollte übrigens jedes Mal die Jahreszahl anschauen, bevor einem Kleidung und Ausstattung allzu »östlich-antiquiert« vorkommen.
 
Was zeigt uns Graetz im einzelnen? In neun Kapiteln, deren Trennlinien nicht allzu scharf zu verstehen sind, geht es immer wieder um eines: um Menschen. Graetz ist geradezu vernarrt in Menschen, und so gibt es nur wenige menschenleere Bilder. Manchmal sind sie fern und kaum zu sehen, aber immer präsent, so bei seinen »Schattenspielbildern«, die meist von einem erhöhten Standort aus aufgenommen sind und die wegen des Vorherrschens von Form und Muster (z.B. Kopfsteinpflaster) an abstrakte Fotografie erinnern.
 
Graetz hat ein freundliches Auge und einen leisen ironischen Humor, er ist fotografisch weder knalliger Comedian noch verbissener Enthüller von Missständen. Was gemeint ist, wird dennoch immer klar, etwa wenn Fidel Castro 1972 zum Staatsbesuch in einem jämmerlich dünnen Spalier von Zuschauern einfährt und sich auch die Passanten nicht so sehr interessieren, dass sie stehen bleiben würden. Oder, wenn zwei Jungen am Rand der 1. Mai-Demonstration im selben Jahr FDJ-Fahnenstangen für ein lustiges Ritterturnier missbrauchen.
 
Alt und Jung

Überhaupt, Menschen in ihrer Umgebung, Menschen, die sich einrichten, Menschen, die sich ihre Umwelt aneignen, sie auf ihre individuelle Art sanft in Besitz nehmen, so wie im letzten Kapitel (das etwas irreführend ›Maueröffnung‹ heißt). Die Bilder sind von 1990, Maueröffnung war im Vorjahr, jetzt geht es darum, das lange verschlossene Territorium für Menschen nutzbar zu machen, Patrouillenwege als Spazierwege in Gebrauch zu nehmen, es sich auf dem alten Wachturm gemütlich zu machen.
 
Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit sind Alt und Jung, die Lebensalter nebeneinander und im Austausch. Eines meiner Lieblingsbilder, eigentlich ein eng aufeinander bezogenes Doppelbild, zeigt links ein altes Paar irgendwo auf einer Straße im Prenzlauer Berg, das auf den Betrachter zuwandert, aus dem Bild heraus, rechts ein junges Paar von hinten, das in das Bild hineingeht. Selten hat ein Bild in Gestus, Körperhaltung und Gehrichtung so deutlich die Idee von Frühling und Herbst gemeinsamen Lebens ausgedrückt.
 
Mehrfach sind Graetz dabei wundervolle Porträts gelungen, das zerfurchte Gesicht eines konzentrierten Skatspielers im Park etwa, die pfeilschießende Großmutter auf der Campingausstellung 1974 oder das Kinderpaar, das Hochzeit spielt. Daneben Kollektivporträts wie die Angler auf dem Landungssteg oder die lachenden Jungarbeiter der VEB Baumechanik.
Viel, sehr viel gibt es noch zu entdecken, wenn man bereit ist, diese leisen, aber kräftigen Bilder in Ruhe auf sich wirken zu lassen.
 
Schwache Präsentation

Das hohe Niveau der Bilder findet leider keine Entsprechung in den verbindenden Zwischentexten. Beate Teubert, die diese Texte geschrieben hat, ist Übersetzerin, Universitätsdozentin und Unternehmerin in Bielefeld. Sie gehört zu den Menschen, für die die DDR auch nach 25 Jahren noch das ultimative Schreckgespenst darstellt. Entsprechend prompt rattern ihre Assoziationsketten herunter: Geschäfte (eine Kapitelüberschrift) – leere Regale – lange Warteschlangen, Mobilität – Trabant – Störanfälligkeit – Ersatzteilmangel, Angler – die dicksten Fische gab es, wo das Wasser verschmutzt war.
 
Wer so etwas mag, käme auf seine Kosten, wenn die Zwischentexte wenigstens einen sinnvollen Bezug zu den gezeigten Bildern hätten. Doch im Gegenteil, Frau Teubert erzählt ausgiebig von Zuständen und Vorfällen in der DDR, selbst bildlichen Motiven, die sich auf keinem Bild wiederfinden – an sich schon eine Todsünde bei der Präsentation eines Fotobandes. Sie sieht nicht, sie weiß schon. Hilfreich ist das nicht.
 
Schließlich noch einige Sacherklärungen für Nicht-Berliner und Nicht-Ostdeutsche unter den Leser/innen: die Dimitroffstraße ist die heutige Danziger Straße im Stadtteil Prenzlauer Berg, Ackerhalle ist eine – damals kommunale – Markthalle in der Ackerstraße im Berliner Norden. Und Heiratsmarkt ist ein überregional bekanntes Volksfest und zugleich der Name eines Ausflugslokals in dem Oderbruchdörfchen Reitwein.

| PETER BLASTENBREI
 
Titelangaben
Jürgen Graetz/ Beate Teubert: Stadt, Land, Leben. Fotografien aus der DDR 1967-1992
Halle: Mitteldeutscher Verlag 2014
160 Seiten, 132 Schwarzweiß-Bilder, 24,95 Euro

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