Gesellschaft | Peter Mertens: Wie können sie es wagen?
Wir zerren heute ein Buch quasi aus der Versenkung, ein Buch ist ja ansonsten heutzutage schnell verschwunden. Ähnlich ist es oft mit Gedanken und Themen. Erinnern wir uns noch daran, dass Frau Merkel von den Geldern, mit denen sie uns Schulen und Infrastruktur hätte finanzieren können, gewaltige Beträge den Banken zugeschustert hat? Davon handelt ›Wie können sie es wagen?‹, eine politische Anklage, die in Belgien und Frankreich vor anderthalb Jahren ein außerordentlicher Erfolg war. Von WOLF SENFF
Mit dabei Vorschläge zum geregelten Umgang mit Banken, Vorschläge für angemessene Rentenzahlungen, aktuell und schmerzlos auf deutsche Verhältnisse übertragbar. Peter Mertens ist Soziologe und Vorsitzender der belgischen Partei der Arbeit.
Es geht ans Eingemachte
Was verwundert, ist, dass deutsche Medien uns intensiv aus belgischem Königshaus informieren, aber bei Politik stecken sie vorzugsweise im eigenen Mief und löffeln aus der in den eigenen vier Wänden zubereiteten Kost, Sauerkraut vermutlich. Es sei denn, die gedankenlos herbeigeschwätzte Front des Kalter-Krieg-Revivals diktiert ihnen Wichtigeres.
Aber zurück zum Thema. Nach den Ausführungen über Belgien wirft Peter Mertens einen Blick auf seinen deutschen Nachbarn, und es geht ans Eingemachte. Er zeichnet ein Bild, in dem der von den hiesigen Medien genormte Bundesbürger – Wir sind Papst! Wir sind Weltmeister! – sich kaum wiedererkennen dürfte.
Regierungspropaganda
Im ›reichen‹ Deutschland leben dreizehn Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze, davon sind rund 2,5 Mio. Kinder und 1,4 Mio. Menschen in Arbeit. Mit Arbeitsplatz und in Armut? Wie das? Nun ja, zwischen 1999 und 2008 wurden in Deutschland hundertachtzigtausend Vollarbeitsstellen aufgelöst und es entstanden 2,7 Mio. Teilzeitstellen (Zahlen aus einem im Mai 2011 veröffentlichten UNO-Report). Lobenswert ist das nur für die regierungsamtliche Statistik. Denn wer auch nur eine Stunde wöchentlich arbeitet, ist offiziell mit einem Arbeitsplatz versorgt. Sieg im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit? Ein Schenkelklopfer.
Die Zahlen sind in der Politik selbstverständlich bekannt. Deutschland ist ein Niedriglohnland, jeder weiß es, die Große Koalition möchte es so, die offiziellen Statistiken und Zustandsbeschreibungen sind in eklatanter Weise schönfärberisch, sind Regierungspropaganda, und es bleibt abzuwarten, inwieweit die von der SPD durchgesetzte Mindestlohnregelung die Verhältnisse ändern wird.
Verscherbeln griechischen Eigentums
Nein, die auf Deutschland bezogenen Ausführungen und auch die über Griechenland – steinreiche Reeder, die keine Beiträge zahlen, aber es gibt Sparmaßnahmen im Bildungsbereich – stützen die These, dass reiche Eliten und von ihnen ausgehaltene Politiker systematisch einen Klassenkampf von oben führen, kalten Blutes und ohne Skrupel. Moral? Gewissen? Nicht, solange es um Geschäfte geht und um Finanzen.
Die neoliberale Deregulierung, also das Verscherbeln öffentlichen Eigentums, das in deutschen Kommunen längst rückgängig gemacht wird (ein kostspieliges Unterfangen), wird nun den Griechen wider besseres Wissen aufgezwungen, der griechische Staat wird geplündert.
Extremer Reichtum, extreme Armut
Ähnliche Verhältnisse bestimmen Peter Mertens zufolge die Situation in den Staaten des Baltikums, seitdem sie sich zu Beginn der neunziger Jahre dem westlichen Kapitalismus öffneten. Die öffentliche Grundversorgung wird drastisch gekürzt, in Lettland wurde über die Hälfte der allgemeinen Krankenhäuser geschlossen. Griechenland, Lettland, Irland, Portugal – dennoch sieht Peter Mertens eine täglich wachsende »Bewegung der Hoffnung« und »letzte Zuckungen einer versinkenden Vergangenheit«. Da darf man skeptisch sein. Die »letzten Zuckungen« dürften, vermutlich begleitet vom Klimakollaps, eine hohe Intensität erreichen.
Mertens erinnert uns daran, dass die Zentralisierung Europas von Anfang an ein drängendes Interesse der Konzerne war, die international konkurrenzfähig sein wollten. Der Euro sei eine Währung, »auf das Maß der stärksten Exportländer zugeschnitten« und deshalb ursächlich verantwortlich für die radikale Hierarchiebildung innerhalb Europas, für extremen Reichtum und extreme Armut.
Maßgeschneiderte Konzernstrategien
Unter den Nationen Europas herrsche »eine gnadenlose Jagd nach größeren Marktanteilen, die zulasten von anderen gehen«. Deutschland habe vorgelegt »mit seiner Agenda 2010 und mit Hartz IV und schuf einen Niedriglohnsektor, um anderen den Rang abzulaufen«, und diese radikale Zentralisierung werde zielstrebig fortgesetzt, etwa im Fiskalpakt/Euro-Plus-Pakt vom März 2011, der das nationale Budgetrecht einschränke.
Mertens stellt uns Ayn Rand sowie Milton Friedman und seine Chicago Boys als Gralshüter des Freien Marktes vor und weist darauf hin, dass die weltweit zweihundert größten Industrieunternehmen, die zusammen zwischen 18 und 19 Mio. Menschen beschäftigen, strategisch nach »maßgeschneiderter Planung« arbeiten und »basierend auf präzisen Daten«.
Bei »Treuhand« liegt noch vieles im Dunkeln
Deshalb müsse es letzten Endes darum gehen, auch diese Planungen aus den Klammern des privaten Eigentums zu befreien und mit politisch gesetzten Eckdaten demokratische Kontrolle erst wieder zu ermöglichen. Damit hat er zweifellos recht, aber dieser Hinweis lässt gleichzeitig erkennen, wie umfassend die politische Arbeit sein muss, wenn sie Realität im Interesse der Menschen verändern will.
Äußerst lesenswert sind für den deutschen Leser seine Ausführungen über die DDR und »mafiöse Praktiken« der ›Treuhand‹, die den Gedanken nahelegen, dass eine Menge an aufklärender Aktivität erforderlich ist, damit verdrängte Sachverhalte im Licht einer kritischen Öffentlichkeit neu bewertet werden. Das wäre ein Feld, auf dem sich investigativer deutscher Journalismus ausprobieren, sich bewähren und erste Sporen verdienen sollte.
Titelangaben
Peter Mertens, Wie können sie es wagen? Der Euro, die Krise und der große Raubzug
(Hoe durven ze? De euro, de crisis en de grote hold-up, übers. von Sabine Richter)
Mainz: VAT 2013
413 Seiten, 19,90 Euro
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