Kulturbuch | Maya Deren: Der Tanz des Himmels mit der Erde. Die Götter des haitianischen Voodoo
Wer mit ansieht, dass ein leckgeschlagenes ökonomisches System sich mit großer Beharrlichkeit über Wasser hält, findet aus dem Staunen gar nicht wieder heraus. Wie kann es angehen, dass Abgründe klaffen zwischen Manager-Gehältern und Hartz-IV-Sätzen? Wie kann es sein, dass die Luft, die wir atmen, systematisch vergiftet wird? Fragen, Fragen, Fragen und allüberall ein immenses Gegacker. Von WOLF SENFF
Folglich? Man erwägt neue Strukturen? Nein, nicht richtig, im Gegenteil, das ökonomische System wird planetenweit implantiert, nun agiert es global und stürzt Nationen und Kontinente ins Elend. Politik ist beschäftigt, Kriege zu führen, Bomben zu werfen, »Trump lässt es krachen« (Abwurf einer GBU-43 MOAB, 14.09.), wir machen durch bis morgen früh.
Marien-Verehrung
Maya Derens in den fünfziger Jahren verfasstes und dieser Tage in deutscher Sprache publiziertes Werk beschreibt die Religion und Kultur des Voodoo, die heutzutage das Leben von zirka sechzig Millionen Menschen prägt, vor allem in Haiti, Louisiana/USA und einigen Ländern Afrikas.
In Haiti gehören schätzungsweise drei Viertel der Bevölkerung dem Voodoo an. Gleichzeitig bekennen sich dort neunzig Prozent auch zum katholischen Glauben. Eine Erklärung dafür sieht Deren in der außerordentlichen Komplexität und Flexibilität des Voodoo, der keine Schwierigkeiten habe, das katholische Christentum in den eigenen Glauben zu integrieren; die Marien-Verehrung finde sich nahtlos auf eine zentrale weibliche Figur des Voodoo übertragen.
Von Puppen und von Zombies
Während der Lektüre stößt man auf Motive, die sich die Kultur der ›Moderne‹ auf die eine oder andere Weise aneignet. Beispielsweise die aus diversen Filmen bekannte Stoffpuppe, die, mit einer Nadel gespickt, den Tod einer bestimmten Person herbeiführen soll. In den weitaus meisten Fällen im Alltag dient dieses Ritual jedoch dazu, Erkrankungen zu heilen, und man darf sich wundern, wie gehässig die Kultur der westlichen Moderne »zitiert«.
Der ›Zombie‹, ebenfalls adaptiert, beschreibt ein bei unseren Teenies geschätztes Filmgenre; er ist ein primitiver, kraftstrotzender Riese, der von einer kontrollierenden Instanz zu bösartigsten Zwecken eingesetzt wird. Im Voodoo ist er eine verachtete Nebenfigur.
Gegensätze
Weitergehend ließe sich darüber nachdenken, inwieweit der Zombie nicht sogar Aspekte der westlichen Moderne selbst abbildet, zum Beispiel den Verlust der Fähigkeit zur moralischen Einsicht bei unseren Führungskräften, nicht allein denen des Finanzkapitals.
Maya Deren grenzt den Voodoo unmissverständlich gegen die Lebensweise der Industrienationen ab, die Gegensätze könnten größer kaum sein.
Reiten und geritten werden
Sie berichtet vom zentralen Geschehen des Voodoo, dass eine Person von einem Loa, einer geisterähnlichen Erscheinung, besessen wird. Der Loa, eine kosmische Energie, stellt eine Verbindung her, wobei die besessene Person gänzlich ausgeschaltet bleibt. Nein, es ist weder ein Krampfanfall noch ein hypnotischer Zustand; es gibt verschiedene Loas mit je verschiedener Persönlichkeit, die dann die besessene Person eine Zeit lang »reiten«.
Mehr und weniger ausgeprägt, so Deren, liegt diesen Loas ein in afrikanischer Herkunft gründender Rada-Kult zugrunde oder der aggressivere, von indianischer Tradition gezeichnete Petro-Kult.
Held oder Politiker
Das Pantheon der gottähnlichen Loas ist äußerst vielschichtig, es gibt Loas, die einen Zauber verhindern, andere, die ihn befördern, und je mehr man sich in die Materie einliest, desto weniger kann man den Spöttern folgen, die von Voodoo als einer »primitiven« Kultur reden.
Maya Deren gibt uns spannende Darstellungen von etablierten Loas bzw. Gottheiten, sie zeigt uns einen teils gewinnenden, teils abstoßenden Facettenreichtum etwa vom ebenfalls in der Rangordnung hochstehenden Guèdé, dessen Charakter sich im Lauf der Zeit aus einem stolzen Helden in einen opportunistischen modernen Politiker verwandelte.
Töten oder Retten
Ein Hougan, Priester, kann Einfluss auf die diversen Loas nehmen, die sich stets in einer Besessenheit manifestieren und bei der Bevölkerung unterschiedlich willkommen sind. Für den Haitianer hat, Maya Deren folgend, der Glaube unmittelbaren Bezug auf seinen Lebensalltag; er lebt in ständigem Kontakt mit den Geistern der Verstorbenen, die Loas selbst sind ursprünglich allesamt Geister verstorbener Ahnen, die wichtigsten von ihnen fungieren gottähnlich.
Die Beziehungen zwischen Menschen und den Loas sind nicht ohne Spannung. Beiderseits gibt es Versuche, aufeinander einzuwirken. Manche Loas manifestieren sich in verschiedener Gestalt. Guèdé, der mit einem Bein im Reich der Lebenden und mit dem anderen im Reich der Toten steht, ist bei den Haitianern gefürchtet, ja verhasst; es kommt jedoch vor, dass er versöhnlich auftritt, er kann töten und kann auch Zuflucht vor dem Tod bieten, ausschlaggebend sind die konkreten Umstände.
Objekte und Prinzipien
Für einen nüchternen, pragmatisch gestählten westlichen Verstand ist vermutlich am schwierigsten, zu verstehen, dass all dieses ein authentisches, reales Geschehen ist. Der Besessene wirkt tatsächlich wie eine getauschte Persönlichkeit, und im Vorwege sind sogar Symptome erkennbar, die auf den speziellen Loa hinweisen. Eine andere Welt, nicht wahr?
Die Haitianer betrachten das Universum, und zwar sowohl die natürliche Umwelt als auch die Menschen, als Teile derselben Natur. An natürlichen Abläufen erkennen sie grundlegende, immer wiederkehrende Prinzipien und unterscheiden folglich zwischen dem Objekt an sich und seinem inneren Prinzip.
Herablassende Spötter
Die Objekte sind Erscheinungsformen der stofflichen Welt, vergänglich und einmalig, während die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien dauerhaft und beherrschend, unsterblich sind. Daraus schließen sie, dass diese Prinzipien einer höheren Ordnung zuzurechnen sind als die Materie, und dieses höhere Ordnungssystem begreifen sie jeweils als eine Gottheit.
So weit, so gut. Westliche Aufklärung bezeichnet ihr eigenes höheres Ordnungsprinzip als Wissenschaft. So lassen sich beide Erklärungsmuster einander gegenüberstellen und vergleichen. Aus welchen Gründen das lohnenswert sein könnte? Nein, nicht weil irgendjemand den Wunsch nach einem, wie die Spötter unter uns gern behaupten, »Revival der Steinzeit« hätte, nein, keineswegs.
Erfolge, Rezepte
Sondern weil jedem, der eins und eins zusammenzählen kann, täglich deutlicher wird, dass das gegenwärtige ökonomische System kollabiert bzw. längst kollabiert ist, und zwar trotz all der verzweifelten Augenwischereien seitens der Hochtechnologie, und mit dem Kollaps ist zwangsläufig die westliche Lebensweise beschädigt.
Deswegen ist es wichtig, die Augen zu öffnen für andere Lebensformen, andere Kulturen, und nach deren Erfolgen und ›Rezepten‹ zu fragen. Voodoo ist eine ernstzunehmende Kultur der Gegenwart. Die Darstellung von Maya Deren zeigt, dass sie angenommen wird.
Titelangaben
Maya Deren: Der Tanz des Himmels mit der Erde
Die Götter des haitianischen Voodoo
(Divine Horsemen. The Living Gods of Haiti, New York 1953, übersetzt von Sabine Gebhardt
Wien: Promedia 2017
360 Seiten, 24,90 Euro
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