Gesellschaft | Susan Neiman: Warum erwachsen werden?
Erwachsen werden wir alle, körperlich jedenfalls und im juristischen Sinn, sobald wir ein bestimmtes Alter erreicht haben (und nicht schwer geistig behindert sind). Und dennoch weiß jede/r, dass genug Erwachsene ihr Leben lang kindlich bleiben, sich schwertun mit Verantwortung oder allgemein damit, sich mündig und selbstbestimmt zu verhalten. Was Philosophen über das bewusste Erwachsenwerden zu sagen haben, stellt uns Susan Neiman, Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums, in ›Warum erwachsen werden?‹ vor. Von PETER BLASTENBREI
Erwachsenwerden, wie es die Autorin versteht, hat selbstverständlich nichts mit Führerscheinerwerb oder Wahlrecht zu tun, sondern ist letztlich ein Parallelvorgang zur philosophischen Aufklärung. Von Immanuel Kant, von dem Neiman wie viele heutige US-Philosophen fasziniert ist, stammt die berühmte Definition der Aufklärung als »Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit«.
Neiman hat nach dieser bekannten Definition weitergelesen – was nicht viele tun – und da ist bei Kant ausführlich die Rede von Instanzen, die Menschen aus Eigeninteresse am Mündigwerden hindern. Solche Mächte gibt es bekanntlich immer noch, nur sind ihre Mittel heute bei Weitem »subtiler und invasiver« als die von Kirche und absolutistischem Staat zu Kants Zeit.
Jugendkult
Die massive ideologische Abwertung des Erwachsenenlebens zugunsten eines umfassenden Jugendkults ist dabei nach Neiman zentral. Doch mehr noch, das (unmündige) Kind wird zum gesellschaftlichen Gegenbild stilisiert, zum angeblich subversiven Ideal gegen eine erwachsene, also triste, graue und langweilige Welt. Die westlichen Gesellschaften der letzten hundert Jahre haben eine geradezu verdächtige Fülle von ewig kindlichen Identifikationsfiguren produziert, von Peter Pan (1902) über den Kleinen Prinzen (1943) bis zu Cederströms und Flemings revolutionärem kleinen Mädchen, das die Gebrechen unserer Arbeitswelt kurieren soll (2012).
Dem setzt die Autorin das eigentliche subversive Ideal des Erwachsenwerdens entgegen. Erwachsenwerden (wiederum parallel zur Aufklärung) ist ein niemals abgeschlossener Vorgang, ein ständig erneuerter Entscheidungsprozess, der sich dem Zwiespalt von Sein und Sollen täglich bewusst stellt (nicht zufällig erscheint der Begriff Erwachsensein nirgends in Neimans Buch). Hier werden viele erschrecken: Zwiespalt von Sein und Sollen – das klingt doch arg nach unverständlicher philosophischer Fachterminologie.
Tatsächlich ist die Sache viel einfacher, es geht um den Zwiespalt zwischen dem Istzustand einer notorisch ungerechten Wirklichkeit (dem Sein) und den Vorstellungen einer besseren Gesellschaft, wie sie so oder so in den meisten Menschen leben (dem Sollen). Neiman zeigt dies am Beispiel zweier Philosophen der Aufklärungszeit, dem von Kant hochverehrten Jean-Jacques Rousseau und dem britischen Denker David Hume.
Sein und Sollen
Für Rousseau geht es um die Veränderung des als unerträglich empfundenen Istzustandes. Sein Erziehungsroman ›Emile‹ (1762) hat eben dies zum Thema, wie ein Kind ohne die korrumpierenden Einflüsse der Gesellschaft zum freien Menschen heranwachsen kann. Hume dagegen disputiert den Zwiespalt ganz einfach aus der Welt hinaus: was ist, ist gut durch seine bloße Existenz, und alles andere, auch menschliche Idealvorstellungen, sind philosophisch irrelevante Spinnereien, Einbildungen, die sich an einem gemütlichen Abend mit ein paar Glas Sherry leicht auflösen. Kein Wunder, dass sich die englischen Konservativen auf Hume als ihren Stammvater beziehen.
Konstitutiv für das Erwachsenwerden nach Neiman ist das Herauswachsen aus dem »dogmatischen Alter« (Kant) des Kindes, das alles erst einmal für bare Münze nehmen muss, um die Welt zu begreifen. Überwunden werden muss aber auch das Stadium der Jugend, die alles Vorgefundene, alles Sein, ebenso zwangsläufig einer vernichtenden Kritik unterzieht und sich ganz am Sollen orientiert. Gegenüber den klassischen Mitteln zur Erreichung dieses Ziels, Erziehung, Reisen, Arbeit, ist Neiman durchaus skeptisch. Stupider, an abfragbarem Sachwissen orientierter Unterricht, Massentourismus und Sinnverlust der Arbeit sind allzu sehr zur alltäglichen Realität geworden.
Widerstand als Subtext
Wer der Autorin bis hierher gefolgt ist, wird sich im letzten Kapitel leicht verloren fühlen. Eine gültige Begründung für das Erwachsenwerden ist nicht leicht zu finden und zu benennen. Neiman verbietet sich die naheliegende Herleitung aus dem Widerstand gegen die aktuellen Infantilisierungsstrategien in Unterhaltungsindustrie und Werbung oder in der Herrschaftspraxis westlicher Gesellschaften, obwohl ihre antikapitalistische Haltung unbestritten ist. Eine lange Reihe von Bemerkungen, über das ganze Buch verstreut, zeugt davon. Widerstand bleibt also Subtext.
Neiman besteht hier auf einer umfassenderen philosophischen Begründung. Doch gerade die Philosophie scheint einen jetzt, im entscheidenden Moment im Stich zu lassen. Weil es nicht anders geht. Philosophie kann und soll Hilfestellung sein, Wittgensteins berühmte »Leiter an der Mauer«, nicht Patentrezept oder fertige Verhaltensnorm. Wollte sie feste Regeln anbieten, müsste sie ihre eigene Maxime auf den Kopf stellen, nämlich zum »Selbstdenken« (Kant) hinzuleiten. Die Entscheidung für oder gegen den schweren Weg des Erwachsenwerdens ist jedem/jeder Einzelnen individuell aufgegeben und individuell vorbehalten.
Neimans ›Warum erwachsen werden?‹ ist ebenso ein Plädoyer für die Entscheidung zum Erwachsenwerden wie ein Plädoyer für die Philosophie. Es ist ein faszinierendes, aber alles andere als leichtes oder unterhaltendes Buch. Wer die Mühe des genauen Lesens auf sich nimmt und die Bereitschaft auch für ungewohnte Begriffe mitbringt, kann wenigstens über eines sicher sein: er/sie hat soeben den ersten Schritt zum Erwachsenwerden in Neimans Sinn getan.
Titelangaben
Susan Neiman: Warum erwachsen werden?
Eine philosophische Ermutigung
(Why grow up? Deutsch von Michael Bischoff)
Berlin: Hanser 2015
240 Seiten, 19,90 Euro
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