Weltenentdecker

Jugendbuch | D. Steinhöfel: P. B. Shelleys Die Wolke

Fast zweihundert Jahre alt ist das Gedicht The Cloud – und im Unterschied zum Ursprungsland England hierzulande wenig bekannt. Als wichtiges Beispiel der Lyrik der Romantik umfasst es nicht allein Naturphänomene, sondern implizit auch die menschliche Existenz, in ihrer Großartigkeit wie ihren Schrecken. Von beidem hat sich Dirk Steinhöfel in seiner eigenwilligen Visualisierung von P.B. Shelleys Die Wolke anregen lassen und eine weitere neue Welt geschaffen. Sein Bruder Andreas Steinhöfel hat den Text ebenso eigen neu ins Deutsche übersetzt. Von MAGALI HEISSLER

Steinhoefel - Die WolkeDas Gedicht ist nicht übermäßig lang: 84 Zeilen hat es, verteilt auf sechs ungleich lange Strophen. Sein Inhalt aber enthält die ganze Welt. Die Erzählerin Shelleys, das lyrische Ich, ist die titelgebende Wolke, ein verführerisches Sujet. Steinhöfel lässt sich von Anfang an nicht von Oberflächenphänomenen bezaubern. Er setzt das physikalisch-himmlische Phänomen in ein menschlich-erdgebundenes um. Statt den verrätselten Wegen eines Gebildes aus Luft und Feuchtigkeit zeigen seine Bilder einen kleinen Jungen, der sich, mit einem altmodischen Koffer in der Hand, auf die Spur der vier Elemente begibt. Er will sie einfangen, das verraten die vier Weckgläser, die sich zusammen mit anderen, ein wenig geheimnisvollen Gegenständen in seinem Koffer befinden. Der Junge unternimmt seine Reise aber nicht nur als Jäger und Bezwinger der Welt, sondern als Beobachter. Als dieser lernt er das Staunen und Betrachterinnen und Betrachter des groß angelegten Bilderbuchs im besten Sinn, staunen mit ihm.

Feuer, Wasser, Erde, Luft

Präsentiert wird das Ganze mit wenigen Ausnahmen als Fotoalbum. Fotos des reisenden kleinen Helden und seiner vielfältigen Begegnungen mit den Elementen, Sepia-getönt, mit altmodisch gezackten Rändern oder in Bilderrahmen, liegen auf den Seiten, hängen an Wänden, geordnet, ungeordnet, übereinander, aufgefächert, als wäre man eben dabei, in einer Schachtel mit alten Bildern zu stöbern. Allein diese scheinbar ungezügelte Anordnung verleiht dem Ganzen schon Dynamik. Handlungsreich sind dann die Geschehnisse auf den Fotos. Die Begegnung mit den Elementen nämlich, in ihren unterschiedlichen Zuständen, in ihren ureigenen Räumen, vom Meeresboden bis fast zum Himmel hinauf. Wenn es sein muss auch als Naturgeister, niemals vergisst Steinhöfel, dass er einen eigentlich romantischen Text umsetzt.

Immer wieder sprengen die Ereignisse den Rahmen der kleinen und größeren Bilder, alles drängt, so, wie der kleine Entdecker, Forscher, Baumeister drängt. Denn das ist er auch, er sammelt Teile von etwas, das eine Maschine werden soll, mit Röhren, Druckmessern, Räderwerk, Seilen. Diese Gegenstände und mit ihnen Fundstücke aus der Natur, Steine, Muscheln, Blumen und Seetang finden sich zwischen den Fotos, aber auch Spielzeug, Reste von Schnüren, Haken. Auch sie sind Zeugnisse des großen Unternehmens. Die ewige Bewegung wird unterbrochen durch träumerisch-lyrische Ruhemomente, Herbstszenen, Szenen im Mondlicht, unwirklich anmutenden Momente unter Wasser, endlos scheinendes Sommerglück auf einer Wiese, eine Hand ausgestreckt zum Himmel.

Das dunkle Herz der Romantik

Am Ende gelingt das große Unternehmen nicht, der kleine Reisende kehrt unverrichteter Dinge nach Hause zurück. Ein anderes Kind macht sich auf den Weg. Scheitern und Neubeginn, der ewige Kreislauf ist der Kern der Textvorlage. Er ist auch Kern menschlicher Existenz und Erkenntnis. Der Mensch kann sich die Welt nicht unterwerfen, er kann sie nicht einmal vollständig erfassen. Die Unsicherheit und Brüchigkeit der Verhältnisse spiegelt sich auch in den Bildern, Bruchstücke finden sich hier, Teile statt Ganzem, Zerstörtes, Zerbrochenes, Gerissenes. Lose Fäden flattern immer wieder ins Bild, trotz der vielen Knoten, die geknüpft wurden. Ketten, Fäden, Schnüre, Seile in unterschiedlichen Stärken sind ein auffälliges Motiv. Hinter dem Unfertigen, Brüchigen lauert Unheimliches bis hin zum echten Grauen. Naturgeister steigen brüllen auf, zerstörerische Stürme wüten, die Strahlen des viel besungenen silbernen Mondlichts werden zu tödlichen Speeren. Das Kind im Mittelpunkt ist Mensch und Geist zugleich, es macht todbringende Momente durch und lebt doch weiter, bis seine Reise zu ende ist.

Die insgesamt düstere Farbgebung wie die Schreckensmomente zeigen die Seite der klassischen Romantik, die gern übersehen wird, ihr dunkles Herz. Steinhöfels Bilder, die ihre Entstehung übrigens ausschließlich der Computergrafik verdanken, fangen die unheimliche Atmosphäre erschreckend genau ein. Seine Visualisierung enthält jene Angstmomente, die wir z.B. aus den Geschichten Tiecks oder auch E.T.A. Hoffmanns kennen.

Der Text ist von Andreas Steinhöfel neu und bei aller Treue zum Original neuartig übersetzt. Er ist den Bildern grundsätzlich untergeordnet, er ist in Stücke zerrissen, es gibt viele Seiten ganz ohne Worte. Eben weil es eine eigenwillige Neuübersetzung ist, ist es schade, dass der Text nicht am Ende zum Nachlesen in Gänze abgedruckt wurde.

Ein ganz besonderes »Bilder-«buch und eine ganz besondere Neuübersetzung eines Klassikers.

| MAGALI HEIẞLER

Titelangaben
Dirk Steinhöfel, P. B. Shelleys Die Wolke
Neu übersetzt von Andreas Steinhöfel
Hamburg: Oetinger 2012
128 Seiten, 19,95 Euro
Jugendbuch ab 12 Jahren

Reinschauen
| Webseite des Autors

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

Auf Rosenblättern nach Amerika

Nächster Artikel

Es geht um Krieg

Weitere Artikel der Kategorie »Jugendbuch«

Fast wie die Möwe Jonathan

Jugendbuch | Jasminka Petrović: Der Sommer, als ich fliegen lernte

Die Sommerferien drohen grässlich öde zu werden: die 13jährige Sofija begleitete ihre Oma zu einem Besuch bei ihrer Schwester. Und zunächst wird es genau das, was Sofija befürchtet hat: ein Albtraum. Von ANDREA WANNER

Love story

Jugendbuch | Anne Freytag: Mein bester letzter Sommer Sich zu verlieben gehört zu den ganz wichtigen Dingen im Leben eines jungen Menschen. Tessa hatte sich das auch gewünscht und sehr wählerisch auf den Richtigen gewartet. Jetzt scheint es zu spät. Von ANDREA WANNER

Schwere Bürde Verantwortung

Jugendbuch | Jen White: Als wir fast mutig waren Als älteres Geschwisterkind bekommt man ihn häufig zu hören, den Satz von der Verantwortung für die Kleineren. Erzieherisch ist er nicht falsch. Dennoch sollten Eltern es sich nicht zu leicht machen damit. Zuweilen nämlich nehmen Kinder Verantwortung zu ernst. Dann wird’s gefährlich. Jen White hat eine clevere Geschichte darüber geschrieben. Von MAGALI HEIẞLER

Falsche Sicherheit

Jugendbuch | Karin Bruder: Panama Für die einen ist die Teenagerzeit eine Zeit voller Verwirrung, aus der die Betroffenen aber zuletzt neu orientiert ins Leben aufbrechen. Für die anderen ist sie der Aufbruch aus einer sicheren Kinderzeit ins Leben, das sich zwar als komplex erweist, aber zuletzt Halt bietet. Karin Bruder gibt sich in ihrem jüngsten Roman nicht mit vorgeblichen Sicherheiten zufrieden. Im Gegenteil entlarvt sie diese als falsch. Und das Teenagerdasein als besondere Zone gleich auch. Von MAGALI HEISSLER

Lebensbedrohlich

Jugendbuch | Lea-Lina Oppermann: Was wir dachten, was wir taten Wie handeln Menschen unter extremen Bedingungen, ist eine Frage, deren Beantwortung sich immer wieder aufs Neue für eine Geschichte eignet. Ob die Geschichte auch immer gut ist, ist eine andere Frage. Hier kommt sie auf jeden Fall mit einem cleveren Kniff daher – unter einem ebenso cleveren Titel. Von MAGALI HEIẞLER