Keine Rosen, nur Gestrüpp

Kulturbuch | Karen Duve: Grrrimm

Nicht immer märchenhaft: Karen Duve schreibt die Grimms neu – Grrrimm. Von PEGGY NEIDEL

GrrrimmIrgendwie sind alle verdorben. Der Vater der »Froschbraut« ist ein Gangster, der mit seiner Tochter im Luxushaus lebt und einen autoritären Erziehungsstil pflegt. Der Zwerg ist ein raffgieriger und hinterhältiger Kleinwüchsiger, der in »Zwergenidyll« seine Körpergröße mit ausgeprägtem Dominanzverhalten kompensiert.

Rotkäppchens Familie in Grrrimm ist gewaltbereit und asozial. In Karen Duves Versionen einer Auswahl der Grimmschen Märchen herrschen Gemeinheit, Geiz und Lüge. Alles wenig erbaulich. Doch dass Karen Duves Märchenadaptionen nicht aus Zuckerwatte sind, war zu erwarten.

Rotkäppchen: eigentlich Elsie, wird von ihren Geschwistern gedisst und Feueranzünder oder Blutbeule genannt. Mutter: Säuferin und Ex-Knasti, schlägt gern mit dem Ledergürtel zu. Vater: herumwimmernder Taugenichts. Das Leben ist hart, die Sitten verroht. Und dann kommen die Wölfe. Sie holen den Müll. Niemand sonst befreit diesen Ort von Spuren menschlicher Zivilisation. Seit die EU-Gelder ausbleiben, versucht die Regierung zu sparen, wo es geht. Die Müllabfuhr kam das letzte Mal vor Wochen und seit Kurzem fällt auch noch täglich der Strom aus.

In diesem Bergdorf lebt Elsie mit ihrer Riesenfamilie. Sie bewohnen eine »Holzbaracke, durch deren Bretter der Wind pfeift«. Elsie hat das Leben nichts geschenkt. Doch irgendwann hat sie die Gängeleien der Geschwister satt und schlägt zurück. »Und weil es sich so gut anfühlte, das zu tun, schlug ich sie gleich noch einmal und noch einmal, rechts, links, rechts, klatsch, klatsch, klatsch.« Elsie verlässt ihr Elternhaus und flieht in den Wald zur Großmutter.

Wie sich herausstellt, ist die seit 30 Jahren als Werwolf unterwegs, wird jedoch bald selbst von dem jüngeren Untoten Istvan erledigt, der daraufhin die Großmutter in kleine Stücke hackt. Elsie und ihr Verehrer Stepan nehmen den Kampf auf. Stepan zwingt die Hände des Untoten in einen Schraubstock und prügelt anschließend mit einer Eisenstange auf ihn ein, bevor Elsie ihm mit einem Beil den Kopf abtrennt, »eine Menge Blut sprudelt aus seinem Hals«. Das kann mit jedem Splattermovie mithalten.

Für ihre Sozialkritik im Märchengewand mixt die Autorin literarische Mittel. Realismus paart sich mit Komik und Phantastik: Die goldene Kugel der Gangstertochter wird von einem in einen Frosch verwandelten Polizisten vom Teichgrund geholt, Rotkäppchens Brüder spielen Computerspiele und Schneewittchen und ihr Prinz lassen sich nach einem Jahr scheiden, er könne nicht »bei einer Frau liegen, die wochenlang mit sieben Männern (…) in einer Hütte im Wald zusammengelebt hätte, das müsste jeder einsehen.« Die titelgebende Geschichte setzt Maßstäbe. Die anderen Märchenvariationen können nicht immer mithalten, Figuren bleiben blasser, die Handlungen näher an den Originalen und zuweilen geht es hauptsächlich um die Entzauberung der Märchenwelt. Platte Kalauer bleiben nicht aus.

Viel wichtiger ist jedoch, dass Duve das Märchen in einer Realität ankommen lässt. Ermöglicht die stereotype Personage im klassischen Märchen einfache Gegenüberstellungen von Gut und Böse, sind die Figuren in Grrrimm mit Besonderheiten ausgestattet. Rotkäppchen ist kein namenloses Inventar und der Wolf kein böser Wolf, nur damit schlussendlich die Moralkeule geschwungen werden kann. Elsie wirft die verhasste, rote Kappe ins Feuer und nimmt es mit einem Zombie auf.

Grrrimm ist die Geschichte einer Emanzipation. Auch die anderen weiblichen Figuren teilen aus. Schneewittchen lässt den perversen Zwerg abblitzen und schnappt sich den Prinzen. Die Tochter des Gangsters verliert ohne Augenzucken ihren Vater an die Polizei. »Wie kalt und herzlos du bist.« »Was erwartest du, ich bin deine Tochter.«

Ob sie herzlos ist, oder nur die Spielregeln verstanden hat, das stellt Karen Duve zur Disposition. Die Autorin verhandelt, was gesellschaftliche Umstände hervorbringen, wer der böse Wolf ist, wenn domestizierte Wolfhunde von menschlichen Werwölfen zerfleischt werden. Wer lehrt hier wen das Fürchten? Auch Elsie wird ein Werwolf sein, »da hat Großmutter mich noch schnell gebissen«.

Man kann ja nicht einfach aus dieser Welt heraus, in die man geboren wurde. Mit Grrrimm hält die existenzielle Trostlosigkeit Einzug in die Scheinwelt der Märchen. Hier gibt es keine Rosenranken, nur Gestrüpp und braune Tümpel, Gewalt, Leere und Einsamkeit. Karen Duve psychologisiert und seziert, befreit die Märchenklassiker vom schwarz-weißen Schleier, färbt sie grau, macht sie bitter, macht sie grrrimm.

| PEGGY NEIDEL

Titelangaben
Karen Duve: Grrrimm
Berlin: Galiani Verlag 2012.
160 Seiten. 18,99 Euro

Ihre Meinung

Your email address will not be published.

Voriger Artikel

… bis sie dann gestorben sind

Nächster Artikel

Wie wir morgen leben

Weitere Artikel der Kategorie »Kulturbuch«

Der neue Trend im europäischen Serienformat

Kulturbuch | Lea Gamula, Lothar Mikos: Nordic Noir Wer konzentriert schaut, sieht am Horizont so etwas wie grenzüberschreitende europäische Kultur heraufdämmern, kann durchaus sein. ›Nordic Noir‹ beschreibt in Anlehnung an den »Film Noir« der vierziger, fünfziger Jahre eine Tradition skandinavischen Kriminalfilms seit den späten neunziger Jahren, im Vorlauf der Kriminalromane stufen wir Maj Sjöwall und Per Wahlöö als Geburtshelfer ein, deren international erfolgreiche Roman-Reihe der sechziger und siebziger Jahre ebenso erfolgreich verfilmt wurde. Von WOLF SENFF

Fressführer 2015

Kulturbuch | Deutschland Guide Michelin / Gault Millau Österreich / A la Carte 2015
Alle Jahre im Spätherbst kommen die aktuellen Restaurantführer in die Buchhandlungen, und es werden, neben den »Klassikern« Michelin und Gault Millau, immer mehr. Dabei geraten sie in eine Zwickmühle: Entweder sie ähneln sich bis zur Ununterscheidbarkeit, oder sie bemühen den subjektiven Geschmack – dann freilich gibt es wenig Ursache, ihnen zu vertrauen. Denn einen eigenen Geschmack hat auch der Benutzer, findet THOMAS ROTHSCHILD

Iss den verdammten Marshmallow!

Kulturbuch | Walter Mischel: Der Marshmallow-Test. Willenstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit ›Der Marshmallow-Test. Willenstärke, Belohnungsaufschub und die Entwicklung der Persönlichkeit‹ von Walter Mischel ist ein interessantes Buch über ein psychologisches Experiment. Noch interessanter allerdings sind die Fragen, die es weglässt.Von  JAN FISCHER

Auf halber Strecke

Kulturbuch | Ulrich Raulff: Das letzte Jahrhundert der Pferde Schön, dass sich öffentliche Aufmerksamkeit auch anderen Geschöpfen zuwendet, in diesem Falle den Pferden. Und schön, dass die umfangreiche Darstellung Ulrich Raulffs so erfolgreich ist, die ›Geschichte einer Trennung‹ wurde innerhalb nur weniger Monate zum fünften Mal aufgelegt. Von WOLF SENFF

Champagner in der Chefetage

Kulturbuch | David Graeber: Schulden Zurzeit scheint David Graeber everybody’s Knuddel-Radikalinski zu sein. Der gelernte und lehrende Anthropologe mit dem kecken Jungsgesicht düst von Occupy!-Camp zu Occupy!-Camp, bedient zwischendurch allerlei Medien mit frisch-fröhlichen Interviews, heimst Jubelrezensionen in unseren meinungsmachenden Blättern und sogar verbale Streicheleinheiten von manchem Banker ein. Dabei ist das, was er der Welt zu sagen hat, keine leichte Kost, sondern ein wissenschaftlich fundierter Generalangriff auf den Kapitalismus. Wie man seinem 400-Seiten-Werk Schulden. Die ersten 5000 Jahre entnehmen kann. Von PIEKE BIERMANN