Er zählt zu den erfolgreichsten und produktivsten Schriftstellern Deutschlands, hat bislang über 70 Bücher publiziert, unzählige (teilweise noch unveröffentlichte) Texte der unterschiedlichsten Gattungen verfasst: Romane, Reiseerzählungen, Sachbücher, Essays, Dramen, Drehbücher, Libretti und nicht zuletzt tägliche Notate und literarische Skizzen. Hanns-Josef Ortheils Schaffensdrang – oftmals durch inspirierende ›Kunstmomente‹ angeregt und beflügelt – erscheint unermesslich. Doch welche visuellen Eindrücke haben ihn geprägt? Von INGEBORG JAISER
Ein kleiner Junge steht auf einem Schemel am Wohnzimmerfenster und blickt fasziniert, vielleicht sogar sehnsüchtig auf das Treiben am Kölner Erzbergerplatz. Später wird er Zeitungen und Zeitschriften durchblättern, auf der Suche nach Illustrationen, die eine spontane Neugier und das Bedürfnis des Bewahrens in ihm auslösen. Ausgeschnitten, auf Kartons aufgeklebt und in Kisten aufbewahrt, werden sie ein erstes Arsenal an Bildern bilden, auf das immer wieder zugegriffen werden kann, wie auf eine individuelle Chronik oder ein Privatmuseum: »Zielgerichtet, lustvoll, hypnotisiert vom Visuellen, das in andere Formate umgegossen wurde.«
Visuelle Inspirationsquellen
Gut 65 Jahre später ist aus dem kleinen Jungen einer der meistgelesenen deutschen Schriftsteller geworden. Etliche seiner Werke beschreiben den Werdegang des ehemals stummen, introvertierten Kindes, das durch eine Schule des puristischen Beobachtens den Ausgangspunkt für ein obsessives, lebenslanges Schreibprogramm gefunden hat. Visuelle Inspirationsquellen begleiten jede Lebensphase: von den familiären Fotoalben, frühen Museums- und Kirchenbesuchen, über Aufenthalte und Reisen zu europäischen Metropolen und antiken Stätten, bis hin zu alltäglichen Naturbeobachtungen (›In meinen Gärten und Wäldern‹, 2020), die auch in Krankheits- und Krisenzeiten Halt und aufbauende Rituale bieten. »Lesen lässt sich das Ganze als eine autobiografische Reise durch die Welten der Kunst aus der Perspektive eines Schreibenden«.
Doch mehr als ein bloßes Memoir schlägt ›Kunstmomente‹ einen weiten Bogen von autobiografischen Fixpunkten zu historischen Bezügen, soziologischen Theorien, Klassikern der Weltliteratur, Fotografie, Film und Kunstgeschichte. Römische Impressionen und venezianische Malerei finden ebenso Eingang in den allumfassenden Bilderkosmos wie Pariser Mode, zeitgenössische Atelierbesuche oder cineastische Erlebnisse der Siebziger Jahre. Gekonnt verwebt Ortheil die Herkunft seiner Westerwälder Vorfahren mit den Fotografien von August Sander und Bernd und Hilla Becher. Seine (Studien-)Aufenthalte in Rom mit den Aquarellskizzen des Malers Johann Heinrich Wilhelm Tischbein. Eigene ästhetische Sichtweisen mit den Positionen von Roland Barthes und Georg Simmel. Selbst die Entwicklung vom chronikalen, durch Bildmaterial und externe Fundstücke angereicherten Schreiben zum aktuellen multimedialen Autorenblog erscheint in seiner schlüssigen Herleitung erstaunlich plausibel.
Neu arrangiert und kommentiert
Sollten manche Passagen dem vielbelesenen Ortheil-Fan bekannt vorkommen, so irrt er nicht. Gleich einem schillernden Kaleidoskop vereint ›Kunstmomente‹ zahlreiche Facetten bereits veröffentlichter (jedoch neu arrangierter und kommentierter) Texte mit unbekannten Überraschungen und bislang noch nicht publizierten Preziosen. So imaginiert eine der wenigen fiktionalen Exkurse – gleichsam als Bonustrack – eine erheiternde Begegnung mit Donna Leons Commissario Brunetti, der von seinem Balkon hoch überm Canal Grande hinüber zum Deutschen Studienzentrum winkt.
Der Zauber Venedigs verführte auch zu dieser ›Kunstmomente‹-Kompilation und einem träumerischen Anblick, den das Coverfoto einzufangen versucht. Doch Vorsicht: das vermeintlich luftige Paperback entpuppt sich als inhaltliches und physisches (über ein Pfund wiegendes) Schwergewicht, das während der abendlichen Bettlektüre lahme Arme und einen ermüdeten Geist abverlangen könnte. Die Fülle intellektuell anregender Texte in dieser komprimierten Dichte erfordert mehr Aufmerksamkeit und Reflektion als die meisten belletristischen Werke Ortheils. Doch als Leser wird man danach die Welt mit anderen Augen sehen.
Titelangaben
Hanns-Josef Ortheil: Kunstmomente
Wie ich sehen lernte
München: btb, 2023
349 Seiten. 18,- Euro
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